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Mirjam Bollinger

Wasser predigen und Wein trinken

Gesponsert von Fränzi, die als Beamtin in der Schweiz wohl kaum bestechlich ist und lieber Weisswein als Wasser predigt - und trinkt.


Mitten im hügeligen Nebelwald von Boquete treffen wir auf einer Wanderung ein junges Ngobe-Paar mit ihrem kleinen Mädchen. Sowohl Vater als auch Mutter sind schwer beladen. Wir kommen ins Gespräch,

das sich nach kurzem Smalltalk zu einer wahrhaftigen Bergpredigt wandelt. Während Gontzal und ich ein wenig abseits stehen, befindet sich Patrick mitten in der Schusslinie des eifrigen Missionars. Die auswendig gelernten Sätze über unsere Sünden, die Vergebung derselben durch den Tod von Jesus am Kreuz und unsere Umkehr zum Glauben lasse ich an mir abprallen. Patrick versucht zu Beginn noch, seine Sicht auf die Welt zu erklären. Dann verstummt er. Weil Widerstand zwecklos ist. Beim Weiterwandern wissen wir nicht so recht, ob wir der Absurdität der Situation wegen lachen oder weinen sollen. Es passiert christlich geprägten Europäern nicht alle Tage, im panamaischen Dschungel von einem Indigenen missioniert zu werden. Zurück im Dorf sind wir wie im Flug, weil für Diskussionsstoff gesorgt ist: So weit hat es der Evangelikalismus in Mittelamerika gebracht.


Gontzal ist ein interessanter Gesprächspartner. Er hat in Bilbao Philosophie studiert und ist als Gymnasiumslehrer sozusagen ein Berufskollege. Ich schätze es, für einige Zeit zu dritt zu reisen. Auch wenn es anstrengender ist und noch öfter Kompromisse ausgehandelt werden müssen: Gontzal bringt eine neue Perspektive in unsere Diskussionen. Er hat eine andere Lebenswelt, einen anderen Hintergrund und andere kulturelle Prägungen. Wir diskutieren viel. Über Politik, Kultur und Geschichte. Über seine Haltung betreffend dem baskischen Autonomiestatus; darüber, wie man sich als Angehöriger einer ehemaligen Kolonialmacht beim Reisen in mittelamerikanischen Ländern fühlt; beziehungsweise wie Einheimische auf einen reagieren.

Am Tag der Bergpredigt reisen wir nach Almirante weiter, wo wir den Minivan für die nächsten Tage auf dem Festland parkieren und gerade noch die letzte Fähre nach Bocas del Toro erwischen. In den nächsten Tage erkunden wir weisse Traumstrände in Bocas, baden in kristallklarem Wasser mit grossen gelben Seesternen und treffen Sandro, einen Freund, der im Ausland studiert. Sobald die Sonne untergeht, kochen wir mit ihm und ziehen alle zusammen durch die unzähligen Bars und Clubs. Auf der Nachbarinsel Bastimentos feiern Patrick und ich meinen Geburtstag. Durch den Dschungel laufen wir an wunderschöne verlassene Strände und stürzen uns ins Meer, das wir ganz für uns haben. Am Abend essen wir bei einer strahlenden Kreolin direkt am Meer; den Geburtstagskuchen vertilgen wir in der Hängematte auf der Veranda des typischen Stelzenhauses, in dem wir übernachten. Zum Frühstück wirft uns unser Nachbar am nächsten Morgen Babybananen und Sternfrüchte über die Veranda zu - so viele, dass wir sie nicht aufessen können. Und am Nachmittag finden wir an einem weiteren verlassenen Strand Kokosnüsse, die wir austrinken und die Schale zu Schmuckstücken für unsere Bändeli verarbeiten. Zum Übernachten bleiben wir am Strand.


Am nächsten Tag kehren wir aufs Festland zurück. In einem chinesischen Restaurant erledigen wir alle Formalitäten, die wir für den Grenzübertritt nach Costa Rica brauchen. Wir wollen vorbereitet sein; immerhin wird es unser erster Grenzübergang mit Fahrzeug. In Sixaola am Zoll studiere ich die bereits aus Südamerika bekannten Plakate, während der Migrationsbeamte meinen Pass stempelt. Sie versprechen Integrität, Fairness und Unbestechlichkeit bei Migrations- und Zollbehörde. Wir empfinden sie jedesmal als Verhöhnung, wissen wir doch, mit welchen Karten gespielt wird. Schon so oft haben wir mit Einheimischen über Bestechung diskutiert; so manches Mal wurde darüber geklagt, wie Korruption Kriminalität Tür und Tor öffne, Wirtschaftswachstum blockiere und Demokratien untergrabe. Wir teilen diese Meinung. Und dennoch sind wir regelmässig irritiert, wie sehr Korruption in den Alltag vieler Menschen integriert ist. Wie sehr sie Normalität ist, hingenommen und manchmal sogar verteidigt wird. (Im Chaco, Paraguay rechtfertigte ein Tankstellenangestellter die Korruption der Polizisten beispielsweise mit ihren tiefen Löhnen; er deutete Bestechung regelrecht zur guten Tat an der mittellosen Polizei um.) Und auch wir nehmen sie hin. Zum Beispiel indem wir stets einen 10-Dollarschein hinter Patricks Führerschein verstecken, um in brenzligen Situationen vorbereitet zu sein. Spätestens seit Bolivien wissen auch wir, wie es sich anfühlt, einem Polizisten ohne Umschweife Geld zuzustecken. Und es sollen noch weitere ähnliche Momente folgen: Wenige Minuten später sitzen wir im Büro eines Zollbeamten. Er will uns nicht ausreisen lassen. „Guillermo muss das Auto aus dem Land fahren“, wiederholt er und tippt mit dem Finger auf die Passkopie Guillermos aus dem Kaufvertrag. Nur er sei dazu im Recht. Der Tatsache, dass Guillermo Wochen zuvor zur Abklärung, ob wir mit dem Kaufvertrag auch wirklich ausreisen dürfen, beim Zoll war, schenkt er kein Gehör. Es ist offensichtlich, weshalb wir festgehalten werden: Er will Geld. Und je länger wir diskutieren, desto mehr setzt er uns unter Druck. Mal muss er wegen „unserem Fall“ ein Gerichtsverfahren eröffnen lassen, mal könnte es sein, dass wir festgenommen werden deswegen. Und obwohl wir gerne laut loslachen würden, müssen wir in Verhandlung bleiben. Wir wollen etwas von ihm, er ist am Drücker und wir müssen nach seinen Spielregeln spielen. Nach einer Stunde Diskussion haben wir es aufgegeben, ihm unsere Version zu erklären. Verhandelt wird nur noch der Preis.

50 Dollar ärmer dürfen wir schliesslich in Costa Rica einreisen. Als wir Gontzal in seinem Hostel in Puerto Viejo abladen und an einem schönen Plätzchen am Strand unser Nachtlager aufschlagen, überwiegt aber die Freude: Am nächsten Tag erwartet uns Besuch aus der Schweiz. Meine Freundin Annina wird uns drei Wochen auf unserer Reise begleiten. Dennoch schiesst es mir vor dem Einschlafen durch den Kopf: Ja, auch wir sind Nutzniesser der Korruption. Ansonsten wären wir wohl kaum im Besitz unseres ausländischen Minivans.


Am nächsten Morgen wache ich früh auf, mache Kaffee und stelle meinen Basilikum, den ich in einer Gärtnerei in Boquete gekauft habe, in die Sonne. Plötzlich steht ein Hund neben mir und als ich aufschaue, strahlt mich David an und stellt sich vor. Als Patrick aus dem Auto kriecht, führt uns David, vor dessen Grundstück wir geschlafen haben, durch seinen Garten. Wir plaudern, immer wieder pflückt er eine Frucht von einem Baum und streckt sie uns zu. Und als wir unsere gemeinsame Leidenschaft fürs Kochen entdecken, ist er nicht mehr zu halten: Kurzerhand schenkt er uns sämtliche Zutaten für sein Lieblingsrezept. Im Gegenzug nimmt er von meinen Basilikum, der nun hoffentlich üppig und saftig in seinem Garten gedeiht. Am späten Abend und mit viel Verspätung schliessen wir Annina in die Arme und fahren nach Cahuita an den Strand, wo sie im Zelt neben uns schläft. Die folgenden Tage haben wir viel nachzuholen. Während Patrick sich verliebt in die Wellen wirft - mit seinem eigenen Surfboard, das Annina mitgebracht hat - fläzen wir uns in die Sonne, verteidigen unser Picknick vor frechen Affen und Waschbären und plaudern bei Kaffee. Im Nationalpark wandern wir durch den Dschungel, trinken Kokosmilch aus frischen Kokosnüssen vom Strand, beobachten Rochen und Krebse. Und am Abend kochen wir Davids Lieblingsessen, snacken mitgebrachte Leckereien aus der Schweiz und schauen den Glühwürmchen zu. Bevor wir uns an den nächsten Grenzübergang wagen, verbringen wir drei Tage im Hochland Costa Ricas. Patrick geniesst die Wildnis und den Van für sich, während sich Annina und ich eine schöne Unterkunft mit Pool gönnen, stundenlang in einem warmen Fluss chillen und gut essen. Die letzte Nacht verbringen wir in der Nähe der Grenze an einem Strand, nachdem wir tagsüber lange aber schliesslich erfolgreich auf der Suche nach einem PCR-Testzentrum waren. Vier Stunden wird der Grenzübertritt diesmal dauern: wir warten oft und überall, wir kopieren da und dort und bezahlen Unmengen verschiedene Steuern und Gebühren. Aber schliesslich stehen wir überglücklich in Nicaragua - ohne ein einziges Mal geschmiert zu haben. Am Playa Remanso nahe San Juan del Sur stossen wir an: Wenn schon Wasser gepredigt wird, dann trinken wir Flor de Caña dazu.




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