Das erste Mal wenn du gemeinsam Tee trinkst, bist du ein Gast. Das zweite Mal ein Freund. Beim dritten Mal gehörst du zur Familie. (Pakistanisches Sprichwort)
Wir sind seit zwei Wochen in Pakistan und wenn ich ehrlich bin, habe ich das Land schon ziemlich satt. Kaum hatten wir die indisch-pakistanische Grenze hinter uns gelassen, wehte uns der beissende Geruch von Tränengas in die Augen. Auf dem Weg ins Stadtzentrum von Lahore kreuzten wir brennende Autos und Polizisten in Vollmontur. Und obwohl wir wussten, dass der pakistanische Ex-Premier Imran Khan zwei Tage zuvor wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wurde, rechneten wir kaum mit spürbaren Auswirkungen für uns. Da der ehemalige Cricketstar bei seinen Landsleuten aber ausserordentlich beliebt ist, kam es - wie sich nun offenbart - zu gewalttätigen Protesten.
Auch am nächsten Tag herrschte noch Ausnahmezustand: Die Regierung kappte das gesamte mobile Netz, um weitere Ausschreitungen zu verhindern. Ein wenig umständlich zwar, aber nicht weiter schlimm für uns; wir konnten den Termin im Visa Center zur Beantragung des chinesischen Visums dennoch wahrnehmen. Mit einem riesigen Formularantrag plus Auflagen wurden wir wenig später nach Hause geschickt. Was in Lahore seinen Anfang nahm, endete zwei Wochen später in Islamabad: unsere Mission Impossible ein chinesisches Visum zu beantragen.
Die Zeit in Lahore war gefüllt von wuseligen Bazarbesuchen, wunderschöner Architektur und neugierigen Menschentrauben. Kaum in Islamabad angekommen, wurden die Tage jedoch zäh wie flüssiger Honig. Die Hitze raubte uns den Schlaf, schweissüberströmt liefen wir Kilometer um Kilometer durch die Stadt, weil die Verbindungen der öffentlichen Verkehrsmittel ein Trauerspiel sind. Islamabad ist erst 80 Jahre alt, eine schachbrettartig angelegte Millionenstadt: Hier ist man mit dem Auto unterwegs. Pakistani sind stolz auf ihre moderne Hauptstadt, die alle westlichen Vergnügungen bietet: Shoppingmalls, Luxushotels, schicke Cafés und internationale Restaurants. Als Christ soll es sogar möglich sein, Alkohol zu kaufen.
Ich finde die Stadt schrecklich. Sie lebt nicht, hat kein eigentliches Zentrum und manche Strassen gleichen Hochsicherheitstrakts. Spätestens als wir ohne Termin im Botschaftsviertel aufkreuzten, wurde uns klar, dass man da nicht einfach mal so rumspaziert. Die eigentliche Zufahrtsstrasse ist abgesperrt, überall befinden sich Checkpoints, wo man sich ausweisen muss. Das gesamte Viertel ist eine riesige, abgeriegelte und gesicherte Mini-Stadt. Ohne Termin läuft nichts.
Also warteten wir bis Mittwoch, der einzige Tag, an dem Antragstellende empfangen werden. In der Zwischenzeit füllten wir lange Anträge aus, schossen Passfotos in verschiedenen Formaten, nahmen Kontakt zu einem chinesischen Reisebüro auf, welches uns einen Invitationletter - eine offizielle Einladung - ausstellen musste, damit wir überhaupt einen Fuss auf chinesisches Staatsgebiet setzen dürfen. Wir buchten den obligatorischen Guide, der uns durchs Uigurengebiet bis an die kirgisische Grenze bringen sollte. Wir handelten mit dem Reisebüro, bezahlten teure Rechnungen, kontaktierten Botschaften, diskutierten im überfüllten Visa Center, fuhren erneut zur chinesischen Botschaft und warteten so hartnäckig, bis sich ein Angestellter schliesslich unser annahm. Zwei, drei Telefonate später hatten wir die ernüchternde Gewissheit: mit pakistanischem Touristenvisum ist es schlicht unmöglich, ein chinesisches Visum zu beantragen. Unsere letzte Chance blieb, im Ministerium für Innere Angelegenheiten vorzusprechen, um unser Touristenvisum umzuwandeln zu lassen.
Am Abend desselben Tages sassen wir mit einem deutschen Freund im schattigen Garten einer Eisdiele. Das cremige Glace, der warme Brownie und das Stück Apfelstreusselkuchen trösteten kaum darüber hinweg, dass wir auch im Ministerium erfolglos blieben. Unsere Reise nach China war geplatzt.
Als wir einen Tag später im Bus nach Peshawar sitzen, bin ich misstrauisch. Von der Grossstadt nahe der afghanischen Grenze wollen wir in den bergigen Norden reisen, wandern, zelten und ein Pakistan jenseits von Behördengängen und Enttäuschungen erleben. Doch: Kann mich das Land noch begeistern?
„Salam! Kann ich euch helfen? Sucht ihr was?“. Vor uns steht eine junge Frau mit strahlendem Lachen und lebendigen Augen. Wir warten keine zwei Minuten an der Bushaltestelle, um vom Bahnhof ins Zentrum Peshawars zu kommen. Und weil alles so schnell geht, sitzen wir wenige Minuten später im Bus. Die junge Frau, Pinky, und ich vorne, Patrick und ihr Bruder Abu hinten; so wie sich das hier gehört in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich werde ausgequetscht wie eine reife Zitrone: Pinky ist so neugierig, dass mir kaum Zeit bleibt, auf all ihre Fragen eine Antwort zu finden. „Aber was frage ich alles! Wenn wir erstmals zu Hause sind, bleibt genug Zeit, in Ruhe zu plaudern. Ihr kommt doch zum Essen vorbei?“ Eine rhetorische Frage. Wenig später sitzen wir im Gästezimmer einer kleinen, einfachen Altstadtwohnung im Bazarviertel. Pinky lebt hier mit ihren Eltern und mit drei ihrer fünf erwachsenen Geschwister. Wir sitzen auf weichen Matten auf dem Fussboden, trinken Chai und plaudern. Pinkys Vater hat soeben das Nachmittagsgebet beendet, ihre Mutter sitzt bei uns, die Gebetskette durch die Finger gleitend und Gebete vor sich hinmurmelnd. Farooq, Pinkys älterer Bruder, gesellt sich zu uns. Er hat eine ebenso warme Ausstrahlung wie seine kleine Schwester, lacht gerne und studiert Geografie im letzten Jahr. Seine Abschlussarbeit schreibt er über die Gletscherschmelze in der Schweiz. Noch lieber als über Schweizer Geografie diskutiert er jedoch über Religion. Einmal mehr sind wir fasziniert, wie sehr sich Überzeugungsargumentationen ähneln - ganz egal, aus welcher religiösen Ecke sie stammen. Und wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht zu sehr in religiösen Diskussionen verheddern. Weil es nämlich - das ist meine Erfahrung - nichts bringt. So oder so: Wir sind bei einer äusserst gläubigen Familie zu Besuch.
In der kleinen Küche im oberen Stock bereiten Pinkys zwei Schwestern ein Festmahl zu. Wir sind froh, erwähnen wir beiläufig, dass wir kein Fleisch essen. Abu war schon auf dem Weg zur Metzgerei, um Ziegenfleisch zu kaufen - eine Belastung für das Haushaltsbudget der Grossfamilie, in welcher Pinky als Pharmavertreterin zur Zeit das Haupteinkommen generiert. Der Bruder wird zurückgerufen und Pinkys Mama lädt uns lachend ein, so lange zu bleiben, wie wir wollen: „Ihr Vegetarier kostet uns ja nichts!“ Dennoch brechen wir am nächsten Morgen - nach einem riesigen Frühstück - auf. Essen können wir kaum etwas, weil wir noch so satt vom nächtlichen Festessen sind. Nach einem herzlichen Abschied und dem mehrmaligen Ablehnen von Geschenken und Geld, das uns die Familie mitgeben will, ziehen wir los in den Norden.
Die Gastfreundschaft, die wir in Pinkys Familie erleben, stellt den Auftakt einer Flut an Einladungen und Geschenken dar, der wir kaum nachkommen können. Schon am Nachmittag desselben Tages nehmen uns drei Freunde mit, als wir versuchen per Anhalter in ein kleines Dorf im Kalash Tal zu reisen. Sie sind auf dem Weg, einen Freund zu besuchen und so finden wir uns wenig später im Wohnzimmer eines älteren Herrn wieder, der uns reichlich Lassi einschenkt und Maulbeeren aus seinem Garten auftischt. Der Garten ist ein Traum: eine saftig grüne Wiese, die vom weitläufigen Haus, Obstbäumen und Blumen umgeben wird. Auf der Wiese picken Hühner und Truten Körner und im Schatten einer grossen Trauerweide spielt ein kleines Mädchen. Wir lernen die Töchter unseres Gastgebers und seine beiden Enkelkinder kennen. Im Nu werde ich mit traditionellem Schmuck beschenkt und blicke in enttäuschte Augen, als ich die Einladung, über Nacht zu bleiben, zurückweise. Wie gerne ich die beiden jungen Frauen näher kennengelernt hätte, zur Zeit fehlt mir die Energie, ein weiterer Abend im Kreise einer Familie zu verbringen.
Auch die nächsten Tage sind voll mit Einladungen zum Teetrinken und Plaudern. Weil wir des Fehlens öffentlicher Verkehrsmittel wegen nun oft per Anhalter unterwegs sind, werden wir bei jeder Fahrt mit Kirschen und Aprikosen beschenkt. Tagsüber wandern wir in den Bergen bis zur Schneegrenze, überqueren Gletscher oder müssen auf Pässen übernachten, weil es an Mitfahrgelegenheiten mangelt. Wir staunen über Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen, die uns an Susanne und Reto denken lassen. Wir fahren auf Passstrassen, die so schlecht sind, dass wir aussteigen, anschieben oder mit Steinen Anfahrhilfen bauen müssen. Wir schlafen auf Yakweiden, an kalten Bergseen oder unter Kirschbäumen, die wir zum Frühstück plündern. Die Abende verbringen wir auf dem Fussboden essend bei Familien, die uns einladen, bei neuen Freunden, die uns bekochen und aus ihren Leben erzählen oder uns mit neugierigen Fragen überschütten. Und wenn wir ein wenig überwältigt sind, packen wir unser Zelt und wandern auf verlassene Ebenen, wo wir auf karge Täler blicken, durch die sich türkisblaue Flüsse schlängeln.
Auf einer zweitägigen Wanderung zum Rakaposhi-Basecamp lernen wir Misa kennen. Sie kommt aus Karatschi, ist Tourguidin und führt die Mittvierzigerin Hina mit ihren zwei Jungs zum Basecamp. Misa fasziniert mich. Als Frau in einem männerdominierten Beruf zu arbeiten stelle ich mir anstrengend vor; insbesondere in einer Gesellschaft, in der junge Frauen, sobald sie verheiratet sind, zu Hausfrauen und Müttern werden. Als wir am Abend um den reichlich gedeckten Tisch im Zelt sitzen, erzählt Misa. Sie erzählt von Zwangsheirat, Verzweiflung und Flucht; von Ehrverletzung, Familienschande und Kontaktabbruch. Es ist eine Geschichte, die stellvertretend für so viele Schicksale junger Mädchen - gerade im konservativen Süden Pakistans - steht. Und dennoch: Misas Geschichte hat im Gegensatz zu vielen anderen ein Happy End. Sie fand Zuflucht - und ein Einkommen - in den Bergen, die sie so sehr liebt. Sie fand Liebe in Form eines Mannes, der sie unterstützt; und der sogar ihr Vertrag, niemals Kinder zu wollen, unterschrieb. Sie fand Versöhnung mit ihrer Familie; mehr noch, ein Vater, der mittlerweile stolz auf seine Tochter und deren Business ist. Patrick und ich lauschen gespannt. Bis spät am Abend sitzen wir im Zelt, weil auch Hina beginnt, zu erzählen. Obwohl ihre Geschichte eine ganz andere ist - sie hat eine erfolgreiche Karriere als Ingenieurin hinter sich - die Akzente bleiben dieselben. Beide Geschichten zeugen vom Auflehnen mutiger Frauen gegen gesellschaftliche Erwartungen und patriarchale Strukturen.
Als ich mich an jenem späten Abend in meinen Schlafsack kuschle, bin ich berührt. Ich spüre eine Verbundenheit mit den beiden Frauen; die Gewissheit nämlich, dass wir trotz unterschiedlicher Herkunft, Erfahrungen und kultureller Prägungen denselben, universellen Wunsch in uns tragen: ein Leben in Selbstbestimmung und Freiheit zu führen.
Pakistan wird mich nochmals viele Nerven mehr kosten. Für zwei weitere Wochen werden wir in Islamabad warten; diesmal um ein iranisches Visum zu bekommen. Abermals werden wir Termine im Ministerium für Innere Angelegenheiten und im Botschaftsviertel wahrnehmen müssen. Auch einen Plan B schütteln wir aus dem Ärmel. Das Warten zermürbt. Umso glücklicher sind wir, als wir Pakistan endlich verlassen können. Und dennoch: In kaum einem anderen Land habe ich so viele Freunde gefunden wie hier. Das spüre ich noch heute. Wenn ich Rayyans Aprikosenöl in meine trockenen Haarspitzen massiere, wenn mir Yasin Fotos seiner Bergtouren schickt, wenn ich den Freundschaftsring an Patricks Rucksack baumeln sehe oder wenn wir Weihnachts-Grüsse bekommen und Eid-Wünsche verschicken. Ich fühle Freundschaft in Misas Zusage, ein gemeinsames Projekt zu realisieren oder in Pinkys Sprachnachrichten, wenn sich ihre ganze Familie über unseren Nachwuchs freut. Dann schallt es folgendermassen aus meinem Handy: "Aber... ihr habt doch alles verkauft für eure Reise? Habt ihr denn noch Geld? Sollen wir euch welches schicken?"
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