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Happy Holi

Danke, Anita - unsere treuste Reisebegleitung - dass du dich zusammen mit uns in die Erfahrung „Holi" gestützt hast. Danke, dass du Ungerechtigkeiten siehst, ansprichst und zusammen mit uns wütend bist. Am meisten aber sind wir dankbar für deine Begeisterungsfähigkeit, deine Unvoreingenommenheit und positive Naivität, die es uns plötzlich wieder möglich machte, Dinge wahrzunehmen, die uns in unserem Reisealltag manchmal unsichtbar bleiben. Danke, dass wir Indien durch deine Augen sehen durften.


Wir reisen bereits drei Monate durch Indien, als ich mich im Norden des Landes - Nahe den höchsten Gipfeln der Erde - zum wiederholten Male an die hinduistische Mythologie wage. Bislang wurde mir - der vielen Gottheiten, Inkarnationen, Dämonen und Reittiere wegen - zumeist ein bisschen schwindelig, wenn ich nach einem Tempelbesuch die zugehörige Geschichte nachlesen wollte. Und obwohl ich mich stets damit ermutigte, dass die griechische Mythologie und ihre Idee der wandelbaren Götterfiguren Parallelen zur indischen Götterwelt aufweist: das vedische Weltbild bleibt mir verschlossen.

„Als kleines Kind schon spielte der junge Gott Krishna zauberhaft auf seiner Flöte", lese ich an diesem kalten Abend in Choj, einem winzigen Ort im Parvati-Tal, als ich im Bett liege. Das Leben des Vishnu-inkarnierten Gottes ist seit seiner Geburt ein grossartiges Abenteuer. Kaum geboren kann er sprechen und zaubern, was auch bitter nötig ist, denn der Junge wird von seinem königlichen Onkel verfolgt. Ein Orakel verkündete bereits Jahre zuvor, dass der Neffe des Königs diesen töten würde. Weil Krishnas Flucht - er wurde mitsamt seiner Eltern im Palastkerker gefangen gehalten - aber gelingt, ordnet der König einen umfassenden Säuglingsmord an. Als Hirtenjunge getarnt wächst Krishna fortan in Vrindavan auf. Hier lebt auch Radha, eine junge Kuhhirtin, mit welcher die klassische, hinduistische Liebesgeschichte schlechthin ihren Anfang nimmt. Denn: „Krishna zog alles, was jung und weiblich war, in seinen Bann." Daher ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Radha in Krishna verliebt. Allerdings geniesst Krishna weiterhin seine erotische Anziehungskraft und manches Liebesabenteuer, was Radha eifersüchtig werden lässt. Als dem Hirtenmädchen aber klar wird, dass auch sie eine göttliche Inkarnation - und zwar von Lakshmi - ist, weiss sie, dass sie zu Krishna gehört. Fortan liebt sie ihn bedingungslos und hilft den Verehrerinnen Krishnas sogar, sich ihm hinzugeben. Soweit habe ich die Gita Govinda - das im 12. Jahrhundert verfasste Liebesgedicht - verstanden. An der Deutung allerdings tue ich mich schwer. Einerseits steht das Gedicht als Sinnbild der hingebungsvollen Liebe zwischen dem Göttlichen und den Menschen. Hierbei stolpere ich über die erotische Komponente. Andererseits scheint mir die Geschichte einmal mehr als Zementierung patriarchaler Strukturen zu dienen. Und hier liegt wohl des Pudels Kern. Der Grund nämlich, weshalb ich mich in die Gita Govinda vertiefe, liegt in einem Fest, dass wir gut zwei Wochen zuvor in Vrindavan feierten: das Frühlingsfest, Farbenfest oder schlicht Holi. Es steht in direktem Zusammenhang mit Krishnas und Radhas Liebesgeschichte; nicht nur der Örtlichkeiten wegen. Krishna soll mit den Hirtinnen, seinen Geliebten, getanzt und das Spiel der Farben zelebriert haben. Jetzt dämmert es mir: Holi, das im Westen als kommerzielles Musikfestival gefeiert wird, ist in seinem Ursprung unmittelbar an Erotik gekoppelt. Hätten wir das nur zwei Wochen zuvor gewusst...


Als wir nach zwei Tagen Zugfahrt in Mathura ankommen, sind wir zwar müde, aber ziemlich entspannt. Einen ganzen Monat haben wir an den Stränden Goas und Keralas verbracht und uns dabei von Grossstadtleben, Menschenmassen und fehlender Privatsphäre erholt. Ich verliebte mich in das einfache Leben Goas: die Spaziergänge am Strand und durch die allerschönsten Palmenwälder dieser Erde, unser schmuddeliges Strandbungalow mit schiefen Bodenbrettern, Flohmärkte und die leckeren Thalis bei der benachbarten Familie, portugiesische Architektur, rote Erde, Motorradausflüge und einsame Strände.

In Kerala treffen wir Patricks Schwester Anita; ein perfekter Ort für sie, um sich langsam an Indien zu gewöhnen. In einem kleinen Ort in den dschungeligen Hügeln begeben wir uns auf Tigersafari, lernen dank Abraham lokale Pflanzen, Gemüse und Gewürze kennen. Sunita und ihr Mann verwöhnen uns mit ayurvedischen Massagen, Heilkräutern und Essen; mehr noch mit ihrer Herzlichkeit, ihrer Fürsorge und ihren warmen Umarmungen. Auf einer kleinen Insel beschwipsen wir uns bei einer Bootsfahrt durch die Mangroven mit lokalem Palmwein; und zurück am Meer geniessen wir das Sonnenbaden, die touristischen Cafés oder ein Feierabenddrink bei Sonnenuntergang über den Klippen. Nach einem hektischen ersten Monat in Indien, der Patrick und mich aller Eindrücke wegen beinahe erschlug, wissen wir nun: Indien umfasst das gesamte Spektrum.

Zurück im Herzen des Landes herrscht Festlaune. Kaum verlassen wir in Mathura den Zug, sind unsere Gesichter mit puderiger Farbe bedeckt. Am Abend besuchen wir eine Aarti, eine rituelle Feuerzeremonie, die traditionellerweise am Flussufer stattfindet. Die Boote am Ghat füllen sich mit Besuchern, welche die Zeremonie vom Wasser aus beobachten möchten. Auf den Stufen neben uns sitzt eine Gruppe von Frauen, die unablässig Mantras singt. Spätestens heute wird Anita erfahren, welche Aufmerksamkeit man als Europäerin auf sich zieht; die ersten Selfieanfragen lassen nicht lange auf sich warten. Und obwohl es sich um den Vorabend des eigentlichen Holi-Fests handelt, ist der Andrang innerhalb des Tempelgeländes riesig. Nach der Zeremonie schlendern wir durch die Strassen, essen traditionelle Holi-Süssigkeiten, trinken Bhang - das rituelle Marihuana-Lassi, zwängen uns durch enge, mit Kühen verstopfte Gassen, lassen uns hie und da ein wenig Farbe ins Gesicht schmieren und bestaunen die riesigen Scheiterhaufen getrockneten Kuhmists, auf denen am nächsten Tag die Dämonin Holika verbrannt werden soll. Wir freuen uns auf Holi. Wie naiv.

Am nachsten Tag sind wir früh auf, weil wir in den Nachbarsort Vrindavan möchten. Dort findet in einem Tempel der Auftakt des Farbenfestes statt. Nach einem schnellen Frühstück am Strassenrand sind unsere Backen bereits wieder farbig, spätestens um halb zehn erkennt man uns kaum wieder. Auch wir decken uns mit Farbe ein, versuchen gelassen zu bleiben - egal wie offensichtlich die Farbangriffe ausschliesslich uns gelten. Auffallend dabei: Es befinden sich keine einheimischen Frauen mehr auf den Strassen.

Den Tempel in Vrindavan haben wir auch am Mittag noch nicht erreicht: zu verstopft sind die Strassen, zu wild werden die Farbschlachten. Plötzlich stecken wir fest. Von überall her wird mit farbigem Wasser geschossen, sodass sich der Boden in Kürze in eine bunte, spiegelglatte Fläche verwandelt. Ich fühle mich unsicher, denn immer öfters werde ich von grossen Gruppen junger Männer bedrängt. Dann höre ich Anita schreien; durchs Gewimmel sehe ich Patrick zu ihr eilen. Ich folge, so gut es geht. Puderfarbe wird mir in die Augen geworfen, in den Mund - und erschwert das Weiterkommen. Plötzlich überall Hände. Ich schreie ebenfalls. Im nächsten Augenblick stehe ich neben Anita und Patrick. Anita ist aufgebracht und schimpft lauthals. Auch sie wurde begrapscht. Das ist genug. Wir verlassen die Strasse, huschen durch eine Seitengasse aus dem ganzen Trubel und atmen auf.

Der restliche Tag bleibt eine Gratwanderung. Wir besuchen die Strassenparade in Mathura, die unseren Fasnachtsumzügen nicht unähnlich ist. Sobald eine Gruppe junger Männer auf uns zukommt, versuchen wir auszuweichen. Je fortgeschrittener der Tag, desto unaufhaltsam aufdringlicher sind die Männer: mutig vom Bhang und sich gegenseitig hochschaukelnd. In unseren Augen gleicht das Frühlingsfest immer mehr einer riesigen Testosteronparty. Als es zu dämmern beginnt, werden die auf den Strassen aufgetürmten Kuhmisthaufen angezündet und Holika - in Gestalt einer Puppe aus Stroh - wird verbrannt. Symbolisch steht sie für alles Böse, dass durch das Feuer ausgemerzt werden soll. Auf der Bühne, die mitten im Stadtzentrum aufgebaut wurde, geben Krishna und Radha tanzend und singend ihre Liebesgeschichte wieder. Um uns herum beginnen Musikanten zu trommeln und auf Kalebassen-Flöten zu spielen, währenddem junge Männer sich ekstatisch zur Musik bewegen. Immer wieder wechseln wir den Platz - vergeblich. Wir alle sind angespannt - Patrick wohl am meisten - und als ein aufdringlicher Mann pausenlos Selfies mit Patrick schiessen möchte, verziehen wir uns in unser Hotelzimmer.

Am nächsten Tag steht Mathura im Zentrum der Festivitäten. Diesmal sind wir vorbereitet; so glauben wir. Weil wir die Hauptstrasse meiden möchten, führt unser Weg zum Tempel der Eisenbahnlinie entlang in ein armes Stadtviertel. Müll, wohin das Auge reicht, Bretter- und Wellblechhütten, Ziegen und halbnackte Kinder, die im Abfall spielen. Eine Familie steht mit gigantischen Wasserpistolen vor ihrer Hütte und spritzt uns bunt; auf der Flucht landet Patrick mitten in einem Kuhfladen. Zur Wiedergutmachung lädt uns die Familie zu Frühstück und Tanz ein - in diesem Moment für Patrick eine Strafe. Er leidet still. Als wir schliesslich unseren Weg wiederaufnehmen, stellen wir ernüchtert fest, dass wir auch hier bedrängt werden. Zurück auf der Hauptstrasse hören wir hinter einem parkierten Auto eine Frau schreien und im nächsten Augenblick stolpert ein Mann mit offener Hose hinter dem Wagen hervor. Wir sind geschockt. Patrick ergreift als erster das Wort: „Hey, so schlimm das nun klingen mag, aber ich kann mich gerade nicht darum kümmern. Mir ist das zu viel." Wir versichern uns, dass der Mann von der Frau abgelassen hat. Dann machen wir uns auf den Heimweg. Zu viel ist zu viel. Am Strassenrand decken wir uns mit Essen ein, welches wir im Hotelzimmer schmausen, während wir den Nachmittag mit Netflixen verbringen. Das Duschwasser wäscht weder unsere Haut, noch unsere Kleidung sauber. Meine pinken Haarspitzen werden abgeschnitten, unsere bunte Kleidung entsorgt. Zwei Wochen wird es dauern, bis ich meine natürliche Haarfarbe zurückhabe. Normalerweise stören mich solche Oberflächlichkeiten kaum. Doch diesmal werde ich mit jedem Blick in den Spiegel an Holi erinnert - ein bitterer Nachgeschmack, um ehrlich zu sein. Schon als wir an diesem Abend satt, erholt und sicher in unserem Zimmer sitzen und über die Erfahrungen der letzten zwei Tage diskutieren, steigt ein schlechtes Gewissen in mir auf. Ich muss an die Frau hinter dem Auto denken und an all die anderen indischen Frauen, die Holi ausschliesslich im Kreis der Familie verbringen. Die öffentlichen Feiern sind für sie - aller sexuellen Belästigungen wegen - keine Option. Ich kann ihr Verhalten absolut nachvollziehen. Und dennoch macht es mich wütend, dass an so vielen Orten auf dieser Welt die Verantwortung auf Frauen geschoben wird: Wenn du an Holi teilnimmt, ist das ein stillschweigendes Einverständnis, dass du damit okay bist, dass dich Männer begrapschen. Ansonsten: Bleib zuhause, Mädel.


Hand aufs Herz: Eigentlich müssten wir nicht bis nach Indien reisen für solcherlei Erfahrungen. Ich kann mich gut an einen Fasnachtsumzug erinnern, an welchem meine Freundinnen und ich als Teenagerinnen mit Konfettis eingerieben und auf Umzugswagen verschleppt wurden. Dabei schien es normal zu sein, dass die jungen Männer uns an Brüsten und Po begrapschten - mal mehr, mal weniger offensichtlich. Da meine Familie öffentliche Fasnachtsveranstaltungen mied (aus gutem Grund, wie ich damals erfahren sollte), war ich zum ersten Mal an einem Umzug. Ich weiss noch, wie empört ich war - und dennoch so ohnmächtig - und wie wir Freundinnen darüber redeten - und es dennoch irgendwie hinnahmen. Wie also müssen sich indische Frauen an diesen drei Tagen fühlen, wenn sie hinter ihren verschlossenen Türen ausharren, weil die gesamte Stadt in einem Ausnahmezustand ist?

All diese Gedanken schiessen mir an jenem Abend im Himalaya abermals durch den Kopf, nachdem ich die Liebesgeschichte gelesen habe. Hätte mich das Wissen um die Geschichte vor Grapschereien bewahrt? Lächerlich. Wären wir nicht ans Holi gefahren? Wohl kaum. Die Geschichte lehrt mich retrospektiv lediglich, wie gross die Parallelen zwischen weiblicher Verfügbarkeit beziehungsweise männlicher Macht damals und heute noch immer sind. „Eine Gesellschaft, die Frauen durch Wegsperren vermeintlich schützt, zementiert damit ihre eigenen patriarchalen Strukturen", schiesst es mir durch den Kopf. An dieses ernüchternde Fazit werde ich in den kommenden Monaten - vor allem in Pakistan und Iran - noch so oft zurückdenken.


Ps. Umso zynischer liest sich meines Erachtens der deutsche Wikipedia-Artikel über Holi: „An diesem Tag scheinen alle Schranken durch Kaste, Geschlecht, Alter und gesellschaftlichen Status aufgehoben." Welch ein Trugschluss. Das Holi, das wir erlebten, ist ein Festival ohne indische Frauen (Witwen ist es sogar verboten, daran teilzunehmen

- mit wenigen Ausnahmen) und eine massive Demonstration männlicher Macht. Junge Männer schaukeln sich gegenseitig hoch, um Macht zu ergreifen, die normalerweise nicht ihnen gehört, um Belästigungen zu begehen, die sie normalerweise nicht begehen würden (oder zumindest nicht in der Öffentlichkeit). Ja, Holi erschüttert soziale Hierarchien, aber auf Kosten der Schwächsten. Denn: Frauen und Dalit (Unberührbare) stehen sogar ausserhalb - das heisst unterhalb - des Kastensystems; einem System, das sich selbst jenseits von Gleichheit befindet.





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