Was es ist
Aktualisiert: 17. Aug. 2021
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Erich Fried
Am Samstagabend vor unserer Abreise sassen wir in gemütlicher Runde in einem Schaffhauser Schrebergarten. Die Luft war noch immer lau von der spätsommerlichen Hitze des Tages und der Weisswein kühlte angenehm. Der Bruder meiner besten Freundin feierte Geburtstag. Die vorangegangenen Tage waren intensiv; ausgefüllt mit Reisevorbereitungen. Umso mehr genoss ich jedes vorläufig letzte Zusammensein mit Freunden.
„Wie lange wohnen Patrick und du schon zusammen?“, fragte mich an diesem Abend der Onkel meiner Freundin. Er pfiff durch die Zähne als ich ihm erklärte, dass unser Zelt unsere erste gemeinsame Wohnung werden wird. Was folgte, waren Erzählungen über gescheiterte Beziehungen nach dem Einzug ins gemeinsame Heim oder bei grossen Reisen: „Kommt das gut?“ „Wir haben eine ehrliche Kommunikationsgrundlage. Und wir sind beide bereit, unser Bestes füreinander zu geben“, antwortete ich. Natürlich hatten Patrick und ich oft darüber gesprochen, wie es sein wird, plötzlich 24 Stunden am Tag miteinander zu verbringen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb empfand ich die direkte Frage keineswegs als Affront. Ich konnte sie lediglich weder bejahen noch verneinen.
Neun Monate später schwirrt mir die Frage noch immer häufig im Kopf herum. Besonders präsent ist sie in Momenten des Zweifelns. Jedoch ist sie mittlerweile eher sowas wie eine Triebfeder geworden. Ein persönlicher Anreiz dafür, eines Sommerabends mit dem Onkel meiner besten Freundin auf die Liebe jenseits unserer schlechten Erfahrungen anzustossen.
Nach unserem Grenzübertritt nach Paraguay verbrachten wir einige Tage in Ciudad del Este. Wir brauchen diese Pausen von Zeit zu Zeit, um Vergangenes zu verarbeiten, Raum für Neues zu schaffen, Zeit für uns selbst zu haben. Dann geht Patrick joggen oder die Stadt entdecken; ich schreibe, zeichne oder backe Kuchen für die Hostelgäste. Als ich am Mittag des zehnten Tages auf den Rücksitz unseres neuerworbenen Rollers kletterte und wir aus der Stadt hinausfuhren, sprühten wir vor Freude. „Ein neues Abenteuer mit dem Mann, den ich liebe“, jubelte es in mir. „Das kommt super!“ An diesem Abend stellten wir unser Zelt am Stausee Yguazù auf. Glücklich schliefen wir ein; zum ersten Mal seit langem in freier Natur.
Nur wenige Stunden später auf einer lehmigen, von Schlaglöchern gespickten Erdstrasse zweifelte ich. Patrick schob Roli, unseren Roller, durch die Mittagshitze. Auf dem Weg zur ehemaligen Wohnstätte des Schweizer Botanikers Moises Bertoni landeten wir unseren ersten Platten. Ich ärgerte mich und insgeheim warf ich Patrick vor, dass er unvorsichtig gefahren sei. Zu Beginn unserer Reise kam es vor, dass Situationen wie diese in gehässigen Wortwechseln und unfairen Schuldzuweisungen gipfelten. An diesem Tag beschloss ich, meine Perspektive zu ändern. Einerseits vertraute ich vollends in die südamerikanische Hilfsbereitschaft und Kreativität, die Roli wieder auf Vordermann bringen würde. Andererseits - und dies ist wesentlich wichtiger - führte ich mir vor Augen, dass mir dasselbe genauso hätte passieren können. Meinem Ärger Luft zu verschaffen wäre nicht nur kontraproduktiv, sondern auch unfair. Perspektivenwechsel in Momenten wie diesen fordern mich heraus. Mein Ego meint, beweisen zu müssen, dass ich schon gar nicht in eine solche Situation gekommen wäre, weil ich mich anders - besser - verhalten hätte. Einige Monate zuvor hatte Patrick, nachdem wir uns nach einem Streit versöhnten, traurig gesagt: „In diesen Momenten fühlt es sich so an, als wärst du nicht nur Einzelkämpferin, sondern sogar Feindin.“ Dieser Vergleich half mir, so hart er ist. Und er machte mir bewusst, was sich Patrick eigentlich wünscht: Eine unterstützende Partnerin. Diese Perspektivenwechsel muss ich trainieren. Manchmal (und immer häufiger) gelingen sie mir und jedes Mal bin ich unglaublich froh darum. So auch an diesem Tag, denn was auf uns wartete, übertraf die kleine Panne. Auf den Platten folgte ein Gewitter, das die Strasse unpassierbar machte. Wir mussten im Park übernachten. Als wir uns am nächsten Morgen auf die Weiterreise machen wollten (inzwischen wurde Roli von einem Ranger zum Mechaniker gebracht und geflickt), bemerkten wir einen Kurzschluss in der Elektronik. Roli musste zum zweiten Mal verladen und zum Mechaniker gebracht werden. 24 Stunden nach unserer ersten Panne standen wir also mit einer noch grösseren da. Als wir aber an diesem Abend ins Zelt krochen, strahlte Rolis Elektronik in neuem Glanz. Und ich feierte ein persönliches Erfolgserlebnis: Allem Ärger zum Trotz fühlte ich mich Patrick in den vergangenen zwei Tagen nah. Wir waren ein Team.
In den nächsten Wochen genossen wir den grünen, wasserreichen Süden Paraguays. Wir kämpften uns über schlechte Strassen, wurden mit wundervoller Gastfreundschaft (ein Abendessen da, ein Schlafplatz hier und ein Reisebatzen dort) überhäuft und durften durch eigentlich geschlossene Nationalparks wandern. Fudiblutt sprangen wir in verwunschene Wasserfälle, schmausten die besten Chipas mit Cocido und liessen uns durch Mate-Tee-Fabriken führen. In verlassenen Pools schwammen wir um die Wette, bestaunten die Überreste schöner Jesuiten-Missionen, genossen Gespräche mit jungen, alten, indigenen, deutschstämmigen Paraguayer über Gott und die Welt. Im japanischen Garten von Encarnation schleckten wir das beste Glacé, im nahen Seilpark schwangen wir uns von Baumwipfel zu Baumwipfel. An einsamen Flussufern liessen wir uns von Hühnern beklauen, sahen uns in Holzkirchen um und kletterten auf deren Türme. In Asunción feierten wir mit Einheimischen in einer Rockspelunke bis zum Morgengrauen, kauften im Mercado Quatro die längsten Bohnen der Welt und betrachteten antike und zeitgenössische Wollust im Museo del Barro. Wir schlenderten durch kitschige Keramikmärkte, schauten den Handwerkern beim Ziegelbrennen zu und stellten unser Zelt auf dem höchsten Punkt des Cerro Arco auf. Und weil wir Rolis Ölwechsel verpassten, mussten wir in einem schmuddeligen Motel für Lastwagenfahrer schlafen. Wir waren überglücklich, dass der Mechaniker Rolis Motor flickte, obwohl 1. Mai war. Beim Salto Suizo wanderte Patrick auf die Hügel; die Nacht verbrachten wir in einer Zitrusfruchtplantage. An der menschenleeren Laguna Blanca konnten wir endlich Wäsche waschen und genossen noch einmal sommerliche Hitze. So harmonisch waren wir auf unserer Reise noch nie unterwegs.
Wir wissen mittlerweile, welche Situationen, Handlungen oder Orte besonderes Konfliktpotenzial für uns bergen. Was für viele Menschen wahrscheinlich der Inbegriff unaufgeregter, wenn nicht sogar langweiliger Stunden bedeutet, ist für uns potenzielle Krisengefahr: Museumsbesuche. Wir beide diskutieren gerne. Oft versuchen wir, uns gegenseitig von unserer Meinung zu überzeugen, was wir nicht als negativ empfinden. Problematisch werden unsere Diskussionen aber dann, wenn wir die Interessen des Gegenübers abwerten. Im Manzana de la Rivera (Stadtmuseum Asunción) entkamen wir nur knapp einem Streit, weil ein Angestellter mich mit einer Führung durch den gesamten Gebäudekomplex lockte. Spätestens als er uns im Museumsgarten verschiedene Zitrusfrüchte aufschnitt, konnten Patrick und ich wieder zusammen lachen. Diese willkommenen Ablenkungen gibt es nicht immer. Und weil wir am Ende des Tages schliesslich immer auf uns selbst und unsere Beziehung zurückgeworfen sind, mussten wir auch hier beginnen, unser Handeln zu hinterfragen. Die Chance dazu bekamen wir in einem kleinen Museum mitten im Chaco.
Seit wir in Conceptión die Brücke über den Rio Paraguay überquert hatten, befanden wir uns im „anderen Paraguay“. Unsere Tage bestanden nun aus längeren Fahrten, genauem Planen bis zur nächsten Tankstelle, Kriegs- und Siedlergeschichte, noch mehr Gastfreundschaft und menschenleerer Natur, Wildtierbeobachtungen (Flamingos, Jabirus, Capybaras, Füchse, Gürteltiere, Tapire...), deutschen Plaudereien mit Mennoniten und regelmässigeren Mechanikerbesuchen.
„Unverständlich, was den Mennoniten und der Täuferbewegung im Allgemeinen angetan wurde“, sagte ich zu Patrick als wir im Heimatmuseum in Filadelfia standen. Schon am Tag zuvor hatten wir in Loma Plata das Museum über die mennonitische Geschichte besucht. „Dabei sind ihre Grundsätze der ausschliesslichen Erwachsenentaufe und Pazifismus doch sehr progressiv!“ Patrick nickte lediglich. Er schien keine Lust zu haben mit mir über mennonitische Glaubensgrundsätze zu diskutieren. „Mich interessiert die indigene Lebensweise viel mehr“, sagte er ein wenig trotzig und deutete auf alte Fotografien, auf denen Guaranis zu sehen waren. Und schon waren wir mittendrin: In einer Diskussion, in der wir uns gegenseitig zu beweisen versuchten, dass unser jeweiliges Interesse wichtiger und richtiger ist. Dabei vergesse ich jeweils etwas Grundlegendes: Es ist absolut wünschenswert, dass wir verschiedene Interessen haben, weil es unsere Beziehung und unsere Diskussionen belebt. Es macht mich unglaubwürdig, von jungen Erwachsenen gegenseitige Toleranz zu verlangen, die ich in der eigenen Beziehung ausklammere. Also trainiere ich auch hier; am besagten Nachmittag gelang es mir jedoch nicht. Ich wollte recht behalten.
Unsere Stimmung war noch immer gedrückt als wir am späten Nachmittag Adinas Café betraten. Den ganzen Tag schon hatte es genieselt. Wir wurden von Kaminfeuer, Kaffeeduft und herzlichem Lachen empfangen. Auf den Tischchen des liebevoll eingerichteten Cafés standen Blumen, im Hintergrund war Jack Johnson zu hören. Bei Waffeln mit frischem Zwetschgenkompott, selbst gebackenen Sandwiches und Kaffee hellten sich unsere Gemüter auf. Und spätestens als ich Adinas Babybüsis streicheln durfte, war mein Groll verschwunden. Lange unterhielten wir uns. Adina erzählte aus ihrem Leben in Deutschland, von der Eröffnung des Cafés vor vier Jahren, von wunderschönen Fügungen des Schicksals. Patrick und ich erzählten von unserer Reise und was uns antreibt. Gemeinsam sprachen wir über Mut: Was es bedeutet, eigene Wege zu gehen, Zelte abzubrechen, zu vermissen. Und wir alle waren uns einig: Verzicht von Konsum ist befreiend und Luxus ist nichts Materielles. Reichtum besteht viel mehr darin, verschiedene Lebenswelten kennenzulernen, von anderen Menschen inspiriert zu werden, Grosszügigkeit zu leben, Ideen zu teilen, Liebe zu erfahren und weiterzugeben. Mein Herz war leicht auf dem Heimweg, selbst als Patrick und ich den düsteren Vormittag nochmals aufrollten. Das Gespräch im Café hatte mir klargemacht, dass ich Grosszügigkeit auch in meiner Beziehung leben will. Und es brauchte Adina, um mich daran zu erinnern, dass Patricks Selbstdefinition und meine Fremddefinition über ihn auseinander klaffen. Heute trainiere ich, indem ich mir jeweils die Frage stelle, wie Patrick sich selbst definiert. Für mich ist dieser „Trick“ äusserst hilfreich: Somit verstehe ich besser, worauf seine Interessen, Aussagen und Handlungen basieren.
„Ach so, die Mennoniten wurden verfolgt?“, fragte mich unser Hostelnachbar gestern Nachmittag. Ohne meine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Dann müssen die wohl auch was Krummes getrieben haben. Wie die Juden! Die wurden auch nicht ohne Grund aus allen Ländern geworfen!“ Obwohl mir das typische Backpacker-Gelaber („Da müsst ihr unbedingt hin! Ich hab was so Krasses erlebt!“) gehörig auf den Senkel ging; mit antisemitischen Aussagen rechnete ich nicht. „Glaubst du, dass es richtig ist, die Verantwortung bei den Opfern zu suchen?“, fragte ich. Der Mittfünfziger konnte mir keine Antwort geben und versuchte stattdessen zu beweisen, dass Juden immer schon krumme Geschäfte gemacht hätten. Da redete ich Tacheles: „Was du mir erzählst, ist antisemitisch.“ Patrick war mit Mary Luz, der neuen Besitzerin unseres Töffs, am Busbahnhof. Als er zurückkam, erzählte ich ihm vom Gespräch. Und obwohl ich auch hinsichtlich solcher Situationen am trainieren bin, konnte ich es mir nicht verkneifen: „Schon ganz zu Beginn war mir dieser Typ unsympathisch.“ „Aber du hast dir nichts davon anmerken lassen“, lobte mich Patrick. Ich hielt inne: mein Training schien erste Erfolge zu zeigen. Oftmals führt meine kritische Herangehensweise an Menschen oder Sachverhalte nämlich zu Streit. Weil Patricks Vorgehen grundsätzlich vorbehaltlos ist, empfindet er meine Kritik häufig als negativ. Dann nimmt er eine Verteidigungsposition für die kritisierte Person oder den kritisierten Sachverhalt ein, die gar nicht seiner Meinung entspricht. Vor einigen Wochen hat mir Patrick erklärt, worin unsere unterschiedlichen Vorgehensweisen gründen. Da er im Gegensatz zu mir ein misanthropisches, weitgehend negatives Menschenbild hat, messen wir mit unterschiedlichen Massstäben: „Für mich ist alles, was besser als der Durchschnitt ist, super, weil ich nichts von der Menschheit erwarte. Weil dein Menschenbild positiv ist, erwartest du, dass Menschen Verantwortung übernehmen. Deswegen sind für dich nur die besten zehn Prozent gut.“ Seit diesem Erklärungsansatz verstehen wir uns gegenseitig besser. Mir fällt es seither leichter, unsere Unterschiede als Stärken, denn als Schwächen zu sehen. Wo meine Kritik zu harsch ist, kann Patrick mit seiner Unvoreingenommenheit gegensteuern und umgekehrt.
Nie zuvor in meinen Leben war ich so intensiv mit meinen „hässlichen Seiten“ konfrontiert; nie zuvor investierte ich so viel Zeit und Energie in eine Beziehung. Obwohl ich hart arbeite, empfinde ich diese Arbeit als Privileg. Denn durch sie ist es möglich geworden, dass wir gelassen bleiben, wenn wir uns beim Tanken verrechnen und Patrick Roli samt mir zur nächsten Tankstelle stossen muss. Dass wir uns an der offiziell geschlossenen Landesgrenze nach Bolivien erfolgreich in Geduld üben. Dass wir, nachdem wir ungebremst in eine Militärschranke donnern, Tränen lachen können. Dass wir uns, nach drei Töffli-Pannen innerhalb weniger Stunden, nicht entmutigen lassen. Und zusammenhalten, wenn ein korrupter Polizist wegen Patricks vergessenem Führerschein versucht, uns zu beklauen.
Solange wir beide bereit sind, weiterhin zu investieren, kann ich die Frage des Onkels meiner Freundin bejahen. Dann kommt‘s gut. Denn: Beziehung ist nichts Passives, es ist eine tägliche Entscheidung. Und was die Liebe betrifft: Es ist, was es ist.
Comments