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Tu, was du willst?

Aktualisiert: 7. Nov. 2020

Fest im Schlafsack eingewickelt, liest Patrick im Schein der Stirnlampe ein Kapitel aus unserer momentanen Gute-Nacht-Geschichte vor: „Bastian blickte lange die beiden Schlangen an, die helle und die dunkle, die einander in den Schwanz bissen und ein Oval bildeten. Dann drehte er das Medaillon um und fand zu seiner Verwunderung auf der Rückseite eine Inschrift. Es waren vier kurze Worte in eigenartig verschlungenen Buchstaben: ,Tu, was du willst‘“.


Seit drei Wochen begleitet uns die Unendliche Geschichte auf unserer Reise. Obwohl wir den kindlichen Vorstellungen und langen Beschreibungen wegen ab und zu schmunzeln müssen, inspiriert uns Michael Ende. Oft und ausgiebig diskutierten wir die letzten Tage über unsere Wünsche und Träume. Und es tat ein wenig weh, mir einzugestehen, dass meine Wünsche und Träume in den letzten Jahren klein und überschaubar geworden sind.


Im Lehrberuf lobe ich stets jugendlichen Idealismus. Ich liebe es, wenn junge Menschen die Welt und ihr eigenes Dasein reflektieren; wenn sie bestrebt sind, alles besser zu machen. Für mich ist es unglaublich motivierend, Jugendlichen beim Erzählen ihrer Träume zuzuhören.

Beim Frühstücken in Porto unterhalten sich Patrick und ich über die Klimajugend. Mein Lob über den Mut und das politische Engagement der Jugendlichen kennt kaum Grenzen an diesem Morgen. „Weshalb können wir unser faules Y nicht gegen das kühne Z eintauschen?“ empöre ich mich. „Du willst ein Teil der Klimajugend sein?“, fragt Patrick und schaut mich ernst an. „Dann suche keine Ausrede, sondern sei es!“


Patrick fällt das Träumen leicht. Wenn wir an den wunderschönen Küstenabschnitten Portugals vorbei radeln, während wir am Strand Mittagspause machen oder in einem Café Pasteis de Nata essen, erzählt mir Patrick von seinen neuen Ideen. Mal malt er sich aus, ein Haus zwischen Bergen und Meer zu besitzen, das für alle unsere Freunde offen steht. Dann fragt er mich, wie ich unser gemeinsames Café einrichten würde. Oder wir machen uns schlau, wie leicht sich ein Veloanhänger für Kinder in einen Surfboardanhänger umfunktioniere lassen würde (die Umsetzung dieser Idee verschieben wir auf später :)). Wo ich mich manchmal erst gar nicht wage, eine Idee zum Wunsch werden zu lassen, hat Patrick schon zehnmal geträumt.


Bin ich realistisch geworden mit dem Älterwerden? Enttäuscht, weil nicht all meine Wünsche Realität wurden? Habe ich das Träumen im Trott meines Alltags verlernt? Bin ich bequem geworden? Oder habe ich gar Angst vor Wünschen, weil ich als Versagerin dastehen würde, falls nur ein Bruchteil meiner Träume in Erfüllung gehen würde?


Dicke Regentropfen rinnen die beschlagene Scheibe eines Cafés in Costa da Caparica hinab. Am Samstag haben wir unser erstes Etappenziel - Lissabon - erreicht. Einmal mehr durften wir herzliche Gastfreundschaft erleben; diesmal war es eine brasilianische Familie, die uns bei sich aufnahm. Als wir nach einem herrlichen Sonntagsbrunch und lieben Umarmungen weiter südwärts fuhren, stellte sich Planlosigkeit ein. Unser grösster Wunsch - mit dem Schiff nach Südamerika oder Nordafrika zu fahren - ist zur Zeit nicht realisierbar. Viele Schifffahrten werden nicht angeboten: sowohl Brasilien, als auch Marokko sind per Seeweg nicht zu erreichen. Halten wir an unserem Vorhaben, nicht zu fliegen, fest? Die Flüge nach Mexiko winken verlockend preiswert. Bleiben wir in Portugal? Wir haben uns in Land, Leute und Natur verliebt; ausserdem lockt die Algarve mit schönen Surfstränden. Oder reisen wir mit Zügen Richtung Osteuropa weiter und geben uns mit einer vorläufigen Europareise zufrieden? Was wünscht sich Patrick? Und was wage ich mich, zu wünschen?

Ps. Wir haben die Unendliche Geschichte noch nicht zu Ende gelesen. Somit hat sich uns die Bedeutung der Inschrift noch nicht gänzlich erschlossen...




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