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Hommage à la France

„In Frankreich könnte ich leben“, sagte Patrick vor eineinhalb Wochen. Wir lagen in einem Park in Nantes und hatten soeben unseren Couscoussalat aufgegessen. Abwechselnd zählten wir auf, was uns an Frankreich gefällt. „Pain au chocolat!“ schoss es als erstes aus Patrick. Lachend stimmte ich zu. Wenn wir uns ein wenig Luxus gönnen, liegt dieser nebst einem Bier oder einer Flasche Wein in unzähligen Pains au chocolat.

„Die vielfältigen Landschaften“, nannte ich meinerseits. Für mich ist es das erste Mal, dass ich länger als drei Wochen in Frankreich bin. Dank unserer Route, die uns vom Zürcher Oberland beziehungsweise Schaffhausen via Eurovelo-Route 6 in St. Nazaire ans Meer führte, durchquerten wir Frankreich von Osten nach Westen. Wir fuhren tagelang an Kanälen, grüssten unzählige Fischer und bestaunten bunte Hausboote. Vorbei an riesigen Mais- und Sonnenblumenfeldern führte mancher Waldweg in verlassene Bauerndörfchen. Unser Zelt stellten wir unter alten Eichen auf, pflückten Trauben aus den Weinbergen zum Frühstück und liessen in der Loire kleine Fische an unseren Füssen knabbern. In und um Saumur bewunderten wir Grotten, in welchen Handwerkskünstler ihre Kunstwerke herstellen.

Patrick war an der Reihe. „Die Architektur“, sagte er und mir fiel dabei auf, dass unser erster Stopp in einer Stadt immer der Kathedrale gewidmet ist. Ich mag es, mit Patrick über Architektur zu reden; seine Meinung über Schönheit, Pragmatismus und Unsinn von Bauwerken zu hören. Ich mag es, wenn eine Kathedrale ihre Geschichte sichtbar werden lässt. Ganz besonders mag ich unsere Spekulationen, wenn wir - der Architekt und die Historikerin - ein Gebäude architektonisch nicht einzuordnen vermögen.


Unsere Aufzählung setzte sich fort. Während ich von lokalen Märkten und Flohmis schwärmte, sagte Patrick: „Ich mag die Natürlichkeit der Leute. Das macht sie schön.“ In Besançon, in Orléans, in Tours, Angers und Nantes fiel uns immer wieder auf, wie authentisch die Menschen sind. „Während die Europaallee angestrengt hip konzipiert ist, sind die Altstadtlädeli in Frankreich liebevoll alternativ“, brachte es Patrick auf den Punkt.

In den letzten zehn Tagen hat sich die Landschaft gewandelt. Wir sind am Atlantik angekommen. „Am Meer ist das Leben leicht“, habe ich gedacht, als wir wie kleine Kinder in die Wellen hüpften. Als ich diese Zeilen schreibe, bin ich mir nicht mehr sicher. Ich sitze in einem Café am Strand, schaue den Surfern zu und versuche Patrick unter ihnen auszumachen. Heute überlasse ich das Surfen noch ihm. Wie die beiden Nächte zuvor haben wir auch diese Nacht im Pinienwald geschlafen. Um Mitternacht zog ein Gewitter auf und bange habe ich jeweils die Sekunden nach dem Blitz gezählt. Jeden Morgen freue ich mich mehr, aus dem Zelt krabbeln zu können. Die Nächte sind lang geworden.


Wir kennen die Atlantikküste im Herbst und wissen, wie rau sie sein kann. Und stets erinnern wir uns an die Aussage eines guten Freundes: „Wenn du am Atlantik surfen kannst, kannst du überall surfen.“ Die Küste ist uns lieb. Dennoch: Zum ersten Mal fühle ich mich der bekannten Natur ausgeliefert. Vielleicht liegt es daran, weil es die nächsten zehn Tage regnen soll? Vielleicht spüre ich, dass wir uns bislang kaum einen Tag Pause vom Velofahren gegönnt haben? Im Gegensatz zu unserer Zeit an Frankreichs Flüssen müssen wir uns plötzlich um Wasser zum Trinken und Waschen kümmern. Unsere gewohnten Schlafplätze finden wir hier kaum noch. Zum ständigen Gegenwind gesellte sich in den letzten Tagen eine immer hügeliger werdende Landschaft.


Am meisten aber beschäftigt mich an diesem Morgen unser selbstgewählter Ausschluss aus der Gesellschaft. Die Entscheidung mit Velo und Zelt anstatt Büssli unterwegs zu sein; die Entscheidung, wenig zu konsumieren und langsam zu reisen, ist folgenschwerer als ich es erwartete. Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, wie sich ein obdachloser Mensch fühlen muss. Ich erlebe am eigenen Leib, wie Verzicht gesellschaftliche Ausgrenzung nach sich ziehen kann. Weshalb tun wir dies? Wir könnten auf Campingplätzen schlafen. In fancy Restaurants essen und chice Kleider kaufen. Wo hört Verzicht auf und wann fängt Geiz an? Wo liegt die Grenze unserer Komfortzone und wann schaffen wir Chancen für unerwartet Schönes?




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