Eine Handvoll Selbstbewusstsein, liebes Bolivien, das wünschen wir dir!
Aktualisiert: 17. Aug. 2021
Hoch über La Paz schwebten wir, als Patrick mir Zitate von Regierungsabgeordneten über Boliviens verlorenen Meerzugang vorlas. Auf den Gondelfenstern des weltweit grössten städtischen Seilbahnnetzes lässt Alvaro Garcia Linera, der ehemalige Vizepräsident, verlauten: „El mar, al igual que los rios, es parte integral de la identidad boliviana y de su inevitable futuro.“ (Das Meer, wie auch die Flüsse, ist ein vollumfänglicher Teil der bolivianischen Identität und seiner unvermeidlicher Zukunft.) Der Teleferico, das Prestigeobjekt der Stadt, umfasst zehn verschiedene Linien. Dabei dient die Linea Azul, auf der wir uns befanden, nebst dem Personentransport offensichtlich auch als Kampagne zur öffentlichen Meinungsbildung. Denn: das Meer ist ein wunder Punkt in Boliviens Geschichte. Bis 1883 besass das Land einen Küstenabschnitt, den es im Salpeterkrieg (1879-1883) jedoch an Chile verlor. Seit Jahrzehnten verlangt Bolivien den Abschnitt zurück. Während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Evo Morales erhielt die Forderung neuen Auftrieb und landete schliesslich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Das Urteil 2018 war eine Ohrfeige für Morales: Laut IGH ist Chile nicht verpflichtet, neue Grenzverhandlungen mit Bolivien aufzunehmen.
Mit 1,1 Millionen Quadratkilometern ist Bolivien ein grosses Land. 1825, als es unabhängig wurde, war Bolivien jedoch mehr als doppelt so gross. Als einziges südamerikanisches Land verlor es im Laufe der Geschichte an all seine Nachbarn Territorium: Brasilien fiel der heutige Bundesstaat Acre zu, Argentinien erhielt Teile der Puna von Atacama. Nach dem Chacokrieg (1932-1935) verlor Bolivien den Chaco an Paraguay und zu guter Letzt erhielt Chile den bolivianischen Küstenabschnitt. Mögliche Gründe für diese Gebietsverluste haben Patrick und ich oft diskutiert. Er hat stets die These vertreten, dass sie unter anderem auf das geringe Selbstbewusstsein der Bolivianer zurückzuführen sei. Vor allem bei unseren täglichen Marktbesuchen wurden wir Zeugen dieses „geringen Selbstbewusstseins“, welches ich selbst lieber „Unbeholfenheit“ nenne. (Wir spürten sie beispielsweise, wenn wir statt der gängigen „drei Avocados für 10 Bolivianos“ nur eine Avocado kaufen wollten. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Sie reichten von Ratlosigkeit über Kopfschütteln bis zur gänzlichen Ignoranz. Manchmal wurden uns alle anderen Kunden vorgezogen, manchmal wurden uns stur drei Avocados eingepackt. Und manchmal bezahlten wir am Ende drei Bolivianos für eine Avocado.) Dennoch stellt sich für mich die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Es wäre möglich, dass die Komplexe gerade von den Gebietsverlusten herrühren. Um uns vor wilden und unfairen Spekulationen zu hüten, greife ich auf eine naheliegende Theorie zurück. Sie spricht davon, dass die bolivianische Regierung den Fokus ihrer Tätigkeit auf das Hochland legte und dabei die Verwaltung der Peripherie vernachlässigte. Nicht zu vergessen: Bolivien war stets ein Land mit beneidenswerten Rohstoffvorkommen, die das Interesse der Nachbarstaaten weckten (Chile am Salpeter, Brasilien am Kautschuk, Paraguay an den Wasserreserven). Insofern ist die Frage nach Verantwortung im Wesentlichen genauso bei den Nachbarstaaten zu suchen.
Als wir im Teleferico über den verlorenen Meerzugang debattierten, reisten wir seit eineinhalb Monaten durch Bolivien; ein weiterer Monat sollte folgen. Und wie immer sahen wir uns am Ende unserer Diskussionen mit der Frage konfrontiert: Warum ist Bolivien so, wie es ist?
Spätestens nachdem wir Roli, unser Mofa, verkauft und Santa Cruz hinter uns gelassen hatten, wurde Bolivien fühlbar. In Minibussen schlängelten wir uns steile Passstrassen hinauf, während sowohl Temperatur als auch Sauerstoffgehalt der Luft sanken. In Samaipata machten wir uns in El Fuerte zum ersten Mal auf die Spuren der Inkas. Beim Wandern durch Nebelwälder lehrte uns Santiago über tausendjährige Riesenfarne; am Abend schliefen wir vor dem Kamin seines Künstlerhäuschens. In kleinen Dörfern rund um Sucre mussten wir erfahren, wie unzutreffend die Aussage ist, überall in Südamerika werde Spanisch gesprochen. Gleichermassen erlebten wir, wie wenig wichtig diese Tatsache ist - beispielsweise beim gemeinsamen Frühstück mit einer alten Marktfrau - weil gegenseitige Zuneigung auch ohne Worte spürbar wird. Auf langen Busfahrten lernte ich, wie praktisch die weiten Röcke der Cholitas (indigene Frauen mit mehrlagigen Röcken und Männerhüten) sind, da es keine Bustoiletten gibt und man bei den kurzen Pausen schnell sein muss. Spätestens ab Sucre wurden unsere Daunenjacken zu unseren täglichen Begleitern und für mich sollte es noch eine Weile dauern, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass ich mein gewöhnliches Wandertempo auf den steilen Inkapfaden in den Anden beim besten Willen nicht halten kann. Auf eben diesen Wanderungen durchquerten wir ockerfarbene Mondlandschaften, weite Flussebenen mit strohgelben Gräsern und trafen Bauern in Kunststoffsandalen mit riesigen Garben auf dem Rücken. Mit einfachen Sensen und rudimentären Pflügen an der Arbeit nickten sie uns von ihren Äckern aus zu, die Backen voller Kokablätter. Eine Quechua-Familie lud uns zum traditionellen Essen von K‘alapurka, einer reichhaltigen Steinsuppe zu Ehren Pachamamas, ein. Währenddem einer der Söhne mit einer Schaufel die heissen Steine aus dem Feuer in den riesigen Tontopf gab, fügte er beiläufig hinzu, dass K‘alapurka immer an „Corpus Christi“ gegessen werde. Während wir Europäer uns zuerst besinnen mussten, weshalb Fronleichnam überhaupt gefeiert wird, wurde uns bewusst, wie konfliktfrei, ja, selbstverständlich Synkretismus hier funktioniert. Die Nacht verbrachten wir in Basilios Unterkunft. Während wir unsere Resten aus dem Rucksack assen, tauchte er mit zwei vollen Tellern mit Reis, Yucca und Gemüse auf, die er uns lachend hinstellte. Bis in die späten Abendstunden schaute er unsere Reisefotos an; am Morgen knackten wir gemeinsam Erdnüssli zum Frühstück und er zeigte uns die Webkunst seines Dorfes.
Bolivien ist gross; auch heute noch. Das Staatsgebiet umfasst mehrere geographische Zonen. Das Tiefland beinhaltet den Chaco, den Pantanal, den Amazonas und die Yungas. Im Westen befindet sich das Altiplano. Zwischen dem Tiefland und dem Altiplano erhebt sich die östliche Andenkordillere, die einige Sechstausender zutage fördert. In einem geographisch so vielfältigen Land erstaunt es kaum, dass sich seine Bevölkerung ebenso divers zeigt. Seit 1994 wird diesem Umstand auf Verfassungsebene Rechnung getragen. Morales Verfassungsänderung von 2009 stellt explizit die Rechte der indigenen Bevölkerung sicher und anerkennt die Kultur und Sprache von 36 verschiedenen indigenen Ethnien. Das Resultat dieser ausserordentlich wichtigen Anpassungen: das Land heisst heute offiziell „Plurinationaler Staat Bolivien“ und hat eine zweite Flagge, die Wiphala von Qullasuyu. Mit der Regierung Morales zeigte Bolivien sich und der Welt, dass es weitaus mehr ist als spanische Eroberung, Katholizismus und koloniale Vergangenheit. Denn: über 50 Prozent der Bevölkerung gehören indigenen Völkern an (31 Prozent Quechua, 25 Prozent Aymara), 30 Prozent sind Mestizen, die restlichen 14 Prozent stellen sich aus eingewanderten Europäern, Japanern, Chinesen und ehemaliger afrikanischer Sklaven, den sogenannten Afro-Bolivianos, zusammen. Seit 2009 hat auch der Katholizismus als Staatsreligion - obwohl immer noch weit verbreitet - ausgedient. Stattdessen erlebt der Synkretismus eine starke Aufwertung: Nicht selten und ohne Probleme werden katholische und indigene Feste an ein und demselben Tag gefeiert, wobei sich verschiedene Glaubenselemente mischen und Neues entsteht.
In Sucre, wenige Tage nach unserer Wanderung, fanden wir uns im Casa de la Libertad wieder. Die Führung war von gewohntem Nationalstolz durchzogen und Patrick stöhnte ein wenig auf, als wir vor Vitrinen voll mit Medaillen, Porzellan und weiterem patriotischem Kitsch standen. Bei mir meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich auf den Besuch des Museums bestanden hatte. Einen Raum weiter, in der Galeria de Presidentes, ging uns jedoch ein Licht auf. Obwohl nicht weniger protzig, dafür umso augenöffnender, blickten sie auf uns hinab: die 87 bolivianischen Staatsoberhäupter zwischen 1825 und heute. Wir rechneten. Lässt man Morales 14-jährige Amtszeit aussen vor, ergibt sich eine mikrige Amtszeit von durchschnittlich zwei Jahren pro Präsidenten. Spätestens beim Nachlesen der politischen Geschichte fiel der Groschen: Seit der Unabhängigkeit Boliviens war die junge Republik in Revolutionen, Putschs und Nachbarschaftskriege verwickelt, wobei eine Militärdiktatur die nächste ablöste. (An dieser Stelle lohnt es sich, die karikierte Darstellung der ständigen Machtwechsel im Comic „Tim und der Arumbayafetisch“ von Hergé heranzuziehen. Leider gibt‘s den Comic nicht als Ebook. An dieser Stelle ein liebes Danke an mein Mami fürs Abfotografieren! Wir haben uns sehr amüsiert.) Erst gegen Ende des Kalten Krieges gelangen erste Demokratisierungsprozesse, die sich jedoch einer dramatischen Wirtschaftskrise gegenüber sahen. Die Krise führte in weiten Teilen Lateinamerikas zu wirtschaftlichen Strukturanpassungen im neokonservativen Sinne: öffentliche Ausgaben und Sozialausgaben wurden reduziert, Privatisierungen gefördert, Bedingungen für multinationale Unternehmen und ausländische Investitionen verbessert. Kurzzeitig profitierte die Region davon. Die nachfolgenden lateinamerikanischen Währungskrisen führten jedoch endgültig dazu, dass eine Mehrheit von linken Regierungen an die Macht kam. Somit auch Evo Morales. Nie zuvor in der bolivianischen Geschichte wurde eine solch hohe Wahlbeteiligung von 84,5 Prozent erreicht wie bei Morales Wahl im Jahr 2005. Mit einem Stimmenanteil von 54 Prozent wurde seit Jahrzehnten erstmals wieder die absolute Mehrheit einer Partei erreicht; der MAS (Movimiento al Socialismo). Morales gelang es, die indigene Bevölkerung zu einen: Er selbst ist Aymara. Als Sohn eines Kokabauern trat er als grosser Hoffnungsträger der gesamten lateinamerikanischen Welt aufs Podest. Und tatsächlich: Während seiner Präsidentschaft erlebte Bolivien einen starken Aufschwung. Morales verstaatlichte alle Öl- und Gasvorkommen, führte Arbeitsmarktreformen ein, investierte in Bildung, Gesundheit und Sozialsysteme. Somit gelang eine Vervierfachung des Bruttoinlandprodukts und eine Halbierung der Anzahl von in Armut lebender Menschen. Es ist unbestritten, dass Morales seinem Volk zu den ersten Schritten jenseits einer kolonialen Vergangenheit und hin zu einem neuen, indigenen Selbstbewusstsein verhalf. (Auch in dieser Erfolgsgeschichte gibt es eine Kehrseite der Medaille. Morales liess sich insgesamt dreimal wieder wählen, obwohl eine Wiederwahl nur einmal möglich ist. Nach gewalttätigen Protesten trat er 2019 zurück. Die Interimspräsidentin Jeanine Añez verwickelte sich in Korruptionsvorfälle. Seit Ende 2020 ist Luis Arce, ein Parteikollege Morales‘, Präsident.)
In Potosi, der Stadt des Cerro Rico, hatten wir einen kurzen moralischen Konflikt. Seit der Kolonialzeit werden im Cerro Rico grosse Mengen Silber abgebaut. Weil sich schwarze Sklaven als robuster erwiesen als die einheimischen Minenarbeiter, wurden seit dem 16. Jahrhundert mehrere Zehntausend von ihnen nach Bolivien gebracht. Da den Arbeitern Kokablätter gegeben wurde, um Höhe, Kälte und Hunger erträglicher zu machen, entstanden in den Yungas grosse Kokaplantagen. Bis heute lebt der Grossteil der afro-bolivianischen Community dort. Die miserablen Arbeitsbedingungen führten dazu, dass zwischen 1545 und 1825 über acht Millionen Einheimische und schwarze Sklaven starben. Auch heute noch werden im Cerro Rico von rund 15’000 Arbeitern Silber und Zink abgebaut. Die Arbeitsbedingungen haben sich unwesentlich verbessert. Dennoch: Touristenbüros bieten tägliche Minentouren an. Dabei kriecht man in den Stollen herum, opfert einem Berggott und muss den Arbeitern Dynamit und Schnaps als Geschenke mitbringen. Die Touren geniessen grosse Beliebtheit, da sie der Klaustrophobie wegen Mut verlangen und Abenteuer versprechen. „Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre der Besuch der Minen doch äusserst interessant“, schoss es mir einen kurzen Moment rechtfertigend durch den Kopf. Wie arm. Patrick erinnerte mich an unsere Grundsätze: „Aus genau denselben Gründen besuchen wir auch keine Favela-Tour.“ Zum Teufel mit dem Elendstourismus! Stattdessen verbrachten wir unseren Tag an einer natürlichen, heissen Quelle, dem Ojo del Inca, spazierten durch die bergige Gegend und degustierten Singhani.
Die Umgebung um Uyuni wartete mit unglaublichen Naturschätzen auf uns: Wir wanderten durch die Salzwüste und durch Riesenkakteen hoch zu Vulkanen, in deren Fuss sich Gräber mit alten Mumien verstecken. Wir schliefen in einem Hotel ganz aus Salz, konnten an farbigen Lagunen Flamingos beobachten und auf surreale Felsformationen klettern. Bei Minustemperaturen stampften wir durch den Schnee zu einmaligen Geysir-Landschaften, beobachteten das Brodeln und Kochen und sprangen in heisse Quellen, um uns wieder aufzuwärmen. Beim Mittagessen fütterten wir Viscachas, in den weiten Flussebenen sahen wir Lamas und Straussen beim Fressen zu. Und am Abend, in der einfachen Unterkunft im Niemandsland nahe der chilenischen Grenze, fragte ich mich einmal mehr, wie es möglich ist, in dieser unwirtlichen Gegend leben zu können. Den Strom bezieht die Unterkunft aus Generatoren. Das Wasser im WC ist gefroren. Abel, unser Guide, bringt stets Essen aus Uyuni mit: für uns und für die Familie im Niemandsland. An diesem Abend half ihm das zehnjährige Mädchen fleissig, die schwammartigen Pilze anzuzünden, um das Feuer in dem kleinen Öfeli an unserem Tisch am Leben zu erhalten. Bevor die Pilze brennen, muss man sie trocknen; oder man übergiesst sie - wie an jenem Abend - mit Benzin. Ich bewundere diese Leute. Und dennoch ertappte ich mich mehr als einmal dabei, wie ich - zugegebenermassen unzulängliche und unfaire - Vergleiche zwischen Bolivien und Südostasien oder Ostafrika zog. Vor allem tat ich dies in Momenten, in welchen sich Diskussionen um Politik, Medizin, Hygiene oder Bildung drehten (oder wenn wir darum gebeten wurden, fotografiert zu werden). Diese Suche nach etwas Vergleichbaren sagt mehr über mich als über Bolivien aus. Denn: Ich habe mir schlicht nicht vorstellen können, ein solches Land in Südamerika anzutreffen.
Bolivien hinterliess auch in unserer Beziehung Spuren. Patricks Erklärung ist, dass wir gelegentlich zu wenig Sauerstoff hatten und auf dumme Gedanken kamen. Daher gaben wir uns eine Pause: Während er in den Yungas wandern ging und das Umland von Sorata erkundete, genoss ich die hundert Märkte von La Paz. Gemeinsam feierten wir Willakatuti, die Sommersonnenwende, in Tiwanaku, der heiligen Ruinenstätte. Dort soll der Schöpfergott Wiraqucha Menschen und Tiere geschaffen haben. In Coroico bestiegen wir schwitzend den Uchumachi, liefen auf dem Camino de la Muerte ins Tal und fühlten uns dabei wie auf einem Wanderpfad. (Die 80 Kilometer lange Strasse war bis 2007 die einzige Verbindungsstrasse zwischen La Paz und dem Amazonas. Da auf ihr jährlich zwischen 200 und 300 Personen starben, wurde die Strasse 1995 von der Interamerikanischen Entwicklungsbank zur gefährlichsten Strasse der Welt ernannt.) Auf René Bruggers Kaffeeplantage kamen wir in den Genuss von ausgezeichnetem Kaffee, den wir selbst rösten durften. Vor allem aber lernten wir einen unglaublich spannenden Menschen kennen, der sich durch Weisheit, Grosszügigkeit und Herzlichkeit auszeichnet und der uns half, Bolivien und uns selbst ein bisschen besser zu verstehen (als Mitarbeiter beim DEZA war René in diversen Entwicklungsprojekten tätig). Am Titicacasee genossen wir stahlblaues Wasser und uns wurde klar, weshalb gerade hier - auf der Isla del Sol - der Sonnengott Inti seine Kinder zur Erde gelassen haben soll. Auf den höchsten Hügeln der Insel hat man ein Panoramablick, der aus einer anderen Welt zu sein scheint. In Kasani, so planten wir, sollte unser Bolivienabenteuer vorerst vorüber sein; da wollten wir die peruanische Grenze überqueren. Aber Bolivien hatte anderes mit uns vor; der Migrationsbeamte blieb stur und liess uns nicht passieren. Argumentationen, Überredungskünste, Erklärungen - es half nichts. Den Abend verbrachten wir mit viel Bier, Singhani und einigen südamerikanischen Künstlern in einer Bar.
Peru war somit ein Stück weiter weg gerückt. Dafür entschieden wir uns am nächsten Tag mit brummigen Köpfen und flauen Mägen, den bolivianischen Amazonas zu entdecken. Rurrenabaque wartete mit tropischen Temperaturen auf uns. Wir konnten unser Glück kaum fassen, als wir im nahegelegenen Wasserfall plantschten und der Abend genug warm war für kurze Hosen. Drei Tage verbrachten wir in einer Lodge irgendwo im Amazonas. Täglich durchstreiften wir den Dschungel, lernten essbare Früchte, medizinische Heilkräuter und Nutzpflanzen kennen. Auf dem Fluss mussten wir schwimmenden Baumstämmen ausweichen, beobachteten Kaimane und Otter oder fischten Piranhas, die Elsa zusammen mit Gemüse und Kräutern in grosse Blätter wickelte und über dem Feuer garte. Ein Nachmittag verbrachten wir damit, einer Familie Totenkopfaffen und einer Familie Kapuzineraffen beim Fressen hoch oben in den Bäumen zuzuschauen. Ein magischer Moment, von dem ich wünschte, er wäre nie vergangen. Das leise Rascheln und Schmatzen in den Baumwipfeln wurde immer unbefangener, der Abstand zu uns immer kleiner, je länger wir die Tiere beobachteten. Am Abend lauschten wir den Klängen des Dschungels oder gingen mit Taschenlampen auf Amphibien- und Insektensuche. Und am Morgen weckten uns Trompetervögel.
Unsere letzten Tage in Bolivien verbrachten wir in La Paz. Auf der Rückreise vom Amazonas nahmen wir die Gelegenheit wahr, unseren lieben Freund, René Brugger, abermals zu besuchen. Die Wartezeit auf meinen Pass (der alte war abgelaufen) erschuf Platz für Neues: eine neue Kamera, ein neues Architekturprojekt für Patrick, ein neues Kreativprojekt für mich. Aller Überraschungen, aller politischer Instabilität, aller Armut zum Trotz: Bolivien hat uns inspiriert wie kaum ein Land zuvor. Deshalb knüpfe ich das Gelb der unzähligen Kartoffelsorten, das Braun der schönen, faltigen Gesichter, das Grün der Kokablätter, das Dunkelrot der Erde zusammen mit Samen, Nüssen und Holzperlen zu Arm- und Fussbändeli. Willst du auch eines?
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