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Das Problem mit der Moral…

…ist, dass so mancher, der sie einfordert, einen Augiasstall sein Eigen nennt. (Thom Renzie)


Wir wussten ja, dass Reisen zu Zeiten von Covid-19 nicht einfach wird. Ebenso wussten wir, dass einige südamerikanische Grenzen selbst im September 2021 noch geschlossen waren. Dennoch wollten wir nichts unversucht lassen, um nicht fliegen zu müssen - wäre es in Amerika doch eigentlich so einfach, über Land zu reisen - keine Visumpflicht, keine Konflikte, die Touristen betreffen. Allen moralischen Vorstellungen, allen Anstrengungen zum Trotz mussten wir uns geschlagen geben - für ein Abenteuer im Gegenzug.


Nach den nebligen Stränden von Peru freuten wir uns wahnsinnig auf das nördliche Hochland: von Cajamarca aus machten wir eine Zweitageswanderung zum Cumbe Mayo. Kilometerweit folgten wir alten Bewässerungskanälen der Inkas, die - in perfekten Winkeln in Stein gehauen - durch riesige Findlinge hindurch führten. Die Felsen machten es hier den Tannen gleich und bildeten spektakuläre Wälder, zwischen denen wir unser Zelt aufschlugen. Als der Regen einsetzte, suchten wir unter einem Felsvorsprung Unterschlupf. Da wir sämtliches Geschirr im Hostel vergessen hatten, genossen wir das selbstgemachte Trauben-Pilz-Fondue mit dem berühmten regionalen „Gruyère“ und „Tilsiter“ aus unseren Chromstahltassen, die wir ins Feuer stellten; das Brot spiessten wir auf Astgabeln.

Die Weiterreise nach Chachapoyas bewältigten wir in Etappen, da sie touristisch wenig erschlossen ist. Nach Sammeltaxis suchend und stundenlang auf Mitfahrgelegenheiten wartend, vertrieben wir uns die Zeit beim Armbändeli knüpfen. Mit Marktleuten tauschten wir sie gegen die besten Mangos aller Zeiten aus, bis uns jemand mitnahm und das lange Warten durch fantastische Sehenswürdigkeiten wettgemacht wurde. Die Umgebung an sich - eine endlose, gewundene Passstrasse durch saftig grüne und steile Berge mit spektakulären Aussichten - wäre schon eine Reise Wert. Dazwischen warteten die verwunschenen Ruinen von Kuelap, die riesigen Wasserfälle von Gocta, die hoch in einer Felswand ruhenden Sarkopharge von Karajia und die mächtigen Stalaktiten und Stalagmiten in der Caverna de Quiocta darauf, von uns entdeckt zu werden.


In Jaén mussten wir uns schliesslich um unsere PCR-Tests kümmern. Obwohl wir wussten, dass die Grenze zu Ecuador offiziell noch geschlossen war, entschieden wir, einen Versuch zu wagen. (Immerhin zeigte sich einige Monate zuvor unser Versuch, die offiziell geschlossene Grenze von Paraguay nach Bolivien zu überqueren auch als erfolgreich.) Auf der Suche nach einem kostenlosen PCR-Test (auch Touristen können in den Genuss des kostenlosen Gesundheitssystems vieler südamerikanischer Länder kommen; wenn man die nötige Geduld mitbringt!), klapperten wir wie gewohnt Labors und Spitäler der Stadt ab; nur um in Erfahrung zu bringen, dass Peru bezüglich Patientenkomfort nochmals nachlegt. Nach einer Terminvereinbarung beim Gesundheitsministerium erschienen noch am selben Tag, pünktlich um drei Uhr, drei in Schutzanzüge gehüllte Ärzte in unserer engen Hotel-Lobby, nahmen Proben und füllten Formulare aus.

Zusammen mit unseren negativen Resultaten fuhren wir am nächsten Tag also nach La Bolsa, an die ecuadorianische Grenze. Allem Plaudern und Diskutieren zum Trotz: der peruanische Grenzbeamte zeigte kaum Erbarmen. Er sagte uns, wir dürfen gerne die (relativ schlecht mit Gittern abgesperrte) Brücke überqueren und uns bei den ecuadorianischen Behörden nach den Einreisemöglichkeiten erkundigen. Wir gingen also über den Fluss, wo uns ein Grenzkontrolleur im Trainingsanzug begrüsste (offenbar gab es momentan wirklich nicht allzu viel zu tun…). Die zuständige Beamtin hatte allerdings keine Lust mit uns zu diskutieren. Sie erklärte lediglich, dass das Passkontrollsystem gar keine Einreise zulassen würde.

Wir waren mässig enttäuscht, hatten wir es nicht anders erwartet und uns bereits einen Plan B zurechtgelegt: Da die Grenzen Kolumbiens bereits offen waren, planten wir mittels Schiff durch den Amazonas nach Leticia zu reisen. Zuerst gab es an der ecuadorianischen Grenze aber noch ein Mittagessen und ein Frust-Bierchen, währenddem wir einem Videodreh von acht sehr asynchron tanzenden Frauen in Lendenschurz-Bikinis mit dem Hintergrund ‚Grenzzaun‘ zuschauen durften. Die Antwort nach Motivation oder Bedeutung blieb uns verwehrt.


Von nun an ging‘s schnell: noch am selben Tag nahmen wir das Sammeltaxi zurück nach San Ignacio und ein weiteres nach Jaén, wo wir eine Stunde Zeit für ein Abendessen hatten. Per Nachtbus fuhren wir durch die Berge und hinunter bis ins heisse Tarapoto, von da auf der Ladefläche eines Pick-Up‘s durch die letzten dschungligen Hügel nach Yurimaguas am Rio Huallaga.

Im geschäftigen Hafen von Yurimaguas kümmerten sich nicht wenige Schiffsleute um uns, um uns dieses oder jenes Frachtschiff schmackhaft zu machen. Zwischen Lasten schleppenden Männern bestiegen wir mit unseren Rucksäcken zwei Boote: Das Erste war ziemlich klein, im Bug wurden grüne Bananen, Kürbisse und Tomaten geladen, das Deck war ausser einigen Wassermelonen noch frei - dort würden wir also unsere Hängematten aufhängen können. Das zweite Schiff hatte zwei riesige Obergeschosse, deren Boden mit Sägemehl ausgestreut war. Darin gackerten und scharrten tausende von Hühnern. Es roch auch dementsprechend, am Rand blieb etwas Platz für die Hängematten. Mit der Aussicht, dass das erste Schiff wegen dem geringeren Tiefgang schneller sein solle (so wurde es zumindest beworben und bei drei Tagen Reisezeit macht das doch etwas aus), weniger kostet und wir vor allem nicht die ganze Reisezeit Mitleid mit unseren gefiederten Nachbarn haben müssen, entschieden wir uns für jenes. Wir spannten unsere Hängematten und spürten schon bald, wie sich ein richtiges Gewitter im Amazonas anfühlt. Blitze erhellten in kurzen Abständen den von schwarzen Wolken bedeckten Himmel und der Regen peitschte auf unser Blachendach, wie wenn sich ein ganzer See über uns erschütten würde. Alles Gesprochene wurde im Nu vom lauten Regen verschluckt und so schaukelten wir friedlich, voller Ehrfurcht und Vorfreude auf unser Abenteuer, mit einem Bierchen in unseren Hängematten. Die erste Nacht verbrachten wir noch im Hafen.

Mit dem ersten Tageslicht kamen auch die Lastenträger wieder. Diesmal aber nicht nur mit grünen Bananen sondern auch mit Kisten voller Hühner. Die Wassermelonen neben uns waren bald fast nicht mehr zu sehen. Jeweils sechs Kunststoffgitter wurden übereinander gestapelt und in Kürze befanden sich um die 600 Hühner auf dem Boot. An Stehen oder Bewegen war für die Hühner nicht zu denken. Ihr Gefieder - konnte man es noch als solches bezeichnen - bedeckte knapp die Hälfte ihrer Haut. Sie zitterten und versuchten verzweifelt, Beine oder Flügel aus den Gittern zu befreien. Wenn ein Huhn tot war, was ab und zu vorkam, wurde es kurzerhand in den Fluss geworfen. Gefüttert sollten sie während der Fahrt nie werden, wenigstens aber einmal pro Tag mit einem Wasserschlauch abgespült; vielleicht auch nur ihrer Reinigung wegen. Verrichtete ein Huhn in den oberen Kisten nämlich seine Notdurft, wurden fünf untere Etagen begossen. Dementsprechend roch es kurze Zeit später wie in einem Hühnerstall und wir wünschten uns auf das Schiff mit Freilandhaltung. Unsere Gedanken kreisten um das Beenden dieses Elends: Kisten öffnen und Hühner freilassen. Dann würden wir wohl die Fracht bezahlen müssen, die Tiere würden in ihrem desolaten Zustand entweder sofort von Kaimanen gefressen oder ertrinken. Und die Händler würden noch einmal so viele Hühner nachliefern. Keine gute Idee also. Wie wäre es, wenn wir alle Hennen kaufen und aufpäppeln würden? Dann würde unsere Reise wohl mit einer Hühnerfarm im Amazonas enden und das klang ehrlich gesagt wenig reizvoll. Während ich mich also langsam damit abfand, einen Hühnertransport, der all unseren ethischen Tierhaltungsvorstellungen widerspricht, zu unterstützen (wir sind Menschen, wir sind nunmal so und eigentlich weiss ich ja auch, dass Tiere so gehalten werden - jetzt erlebe ich es einfach aus nächster Nähe), hatte Mirjam die gesamte Fahrt ihre liebe Mühe damit. Mir selbst schoss dafür jedes mal das Blut in den Kopf, wenn ich die vielen Abfälle im Fluss treiben sah oder wenn unsere Mitreisenden ihre leeren PET-Flaschen - ohne mit der Wimper zu zucken - im Fluss entsorgten. Sollte ich den Leuten erklären, dass alles im Meer landet, zu schädlichem Mikroplastik wird und Tiere daran ersticken? (Förderlich war sicher auch nicht, dass wir uns gerade eben den Dokumentarfilm ‚Seaspiracy’ angeschaut hatten, in dem die Verschmutzung des Meeres einen grossen Platz einnimmt.) Nein. Die Umweltverschmutzung wird keinen Dreck weniger, wenn ein weisser Hippie zehn Peruanern erklärt, wie sie sich in ihrem Land zu verhalten haben. So verschlechterte sich unsere Laune zunehmend, währenddem unser Schiff zügig in den Rio Huallaga stach. Unsere Gemüter beruhigten sich erst beim Mundharmonika spielen, beim Schreiben und Beobachten der wunderschönen Natur allmählich wieder. Gewaltige Wälder begleiteten die Flusswindungen, unzählige Vögel zogen an uns vorbei: die gleiche Szene so lange wir auch auf den Fluss schauten. Das Einzige was sich veränderte, war die Breite des Flusses und der Stand der Sonne.

Kurz vor Essenszeit griff die Köchin jeweils in eines der Käfige und bediente sich eines Huhnes. Da wir uns vegetarisch ernähren, gab es für uns drei Mal pro Tag Reis mit Patacones (frittierte Kochbananenstücke). Mussten wir auf die Toilette, führte eine steile Treppe in den heissen und lauten Motorenraum, den man balancierend über ein schmales Brett durchquerte. Irgendwie schafften wir es bis zum Schluss nicht, uns einen kantigen Hebel auf Kopfhöhe zu merken, der uns jedes Mal auf dem Rückweg einen Schlag verpasste. Mit Freude dachte ich am Abend daran, dass der Besitzer des Schiffes bei der Schiffsbesichtigung eine Dusche erwähnte. Also fragte ich nach, wo die Dusche sei und sie wurde mir gezeigt: Auf einer kleinen Plattform hinten am Schiff befand sich ein kleiner Eimer, der mit einer Schnur am Geländer festgemacht war. Damit wurde Flusswasser geschöpft, welches über Kopf und Körper gegossen wurde. Das war zwar nicht die Dusche, die ich mir vorgestellt hatte, dennoch war sie eine willkommene Abkühlung vom tropischen Wetter.

Die erste Nacht unterwegs verlangte uns einiges ab. Kaum waren wir auf dem Rio Marañon, fuhren wir in kurzen Abständen Farmen und Dörfer an, wobei zum Ein- und Ausladen pausenlos Hühnerkisten unter unseren Hängematten durchgeschoben und unzählige grüne Bananenstauden eingeladen wurden. Unsere Geduld wurde auch am zweiten Tag hart auf die Probe gestellt. Gefühlt alle hundert Meter lagen Bananenstauden am Ufer oder standen Menschen, die mitgenommen werden wollten. Am Nachmittag war das Deck voller Hängematten. Wir vertrieben unsere Zeit mit Kartenspielen und Hängemattenschaukeln. Die nächste Nacht war unsere Erlösung. Es gab nur einen Halt in Nauta, bei dem praktisch alle Leute ausstiegen, um den schnelleren Bus nach Iquitos zu nehmen. Mehr noch freuten wir uns über die Tatsache, dass alle restlichen Hühnerkisten ausgeladen wurden und wir mit den Wassermelonen wieder unseren Frieden hatte. Ich machte mich daran, den Abfall von den anderen Gästen aufzusammeln. Als mich der Kapitän dabei erblickte, fragte er mich, wie Abfall in der Schweiz entsorgt wird und nach meinen Ausführungen erwiderte er bloss, dass wir den hiesigen Abfall guten Gewissens ins Wasser werfen könnten. Der Müll aus Iquitos werde nämlich mit Lastwagen auf eine Deponie etwa 50 Kilometer ausserhalb der Stadt gefahren, mit Chemikalien behandelt und lande dann auch wieder im Fluss. Etwas ernüchtert legte ich mich in meine Hängematte zurück. Dennoch: unseren Abfallsack entsorgte ich brav-schweizerisch in Iquitos.

Das letzte Stück unserer Flussfahrt am Morgen des dritten Tages führte uns auf dem Rio Amazonas nach Iquitos. Im dreckigen Hafen verabschiedeten wir uns von der Crew und nahmen ein Tuktuk zu unserem Hostel. Müde aber überglücklich erzählten wir dem Hostelbesitzer von unserem clever ausgedachten Plan B, worauf er uns antwortete, dass eine Einreise nach Kolumbien nicht möglich sei. Wir verstanden nicht: „Doch, Kolumbien hat die Grenzen offen!“. „Ja, das stimmt“, erwiderte er, „nur lässt Peru keine Personen ausreisen.“ Ungläubig und mit offenem Mund standen wir da. Hatten wir nun diese ganze Reise umsonst gemacht?

Wir wollten uns selbst vergewissern und machten uns umgehend auf den Weg zum Migrationsamt. Doch auch hier bekamen wir dieselbe Antwort; über die Logik dahinter konnte uns niemand informieren. Mit einem letzten Funken Hoffnung (oder eher Verzweiflung) klopften wir schliesslich beim Amt für Äusseres an, um eine Sonderbewilligung anzufragen. Das „No“ kam ziemlich direkt und die Tür war wieder geschlossen. Nun ja, wir machten uns nicht mehr allzu viele Gedanken, kauften stattdessen eine Flasche Rum und genossen einen feucht-fröhlichen Nachmittag, wobei uns Timothée, ein welscher Zimmermann, unterstützend Gesellschaft leistete.


Den nächsten Tag verbrachten wir damit, unseren Kater etwas im Zaum zu halten, schlenderten durch Iquitos und genossen tropische Früchte. Über unsere weiteren Pläne mochten wir uns noch keine Gedanken machen, noch immer waren wir ernüchtert über das Aus unseres Plan B‘s. Den Morgen darauf verbrachten wir am kontroversen Mercado Belen. So spannend die Kultur im Amazonas auch ist, so fragwürdig sind aus westlicher Sicht manche Essgewohnheiten. Dicke Maden liegen auf den Markttischen neben Innereien aller möglicher Tiere, an jedem Stand werden Eimer voll mit Schildkröteneier und verschiedenste Fische, die aussehen wie von einem anderen Planeten, verkauft. (Zu allem Übel schauten wir am Abend zuvor noch Cowspiracy, der unserer Hoffnung für das Tierwohl auf dieser Welt den Gnadenstoss verpasste.)

Am Mittag kühlten wir uns in einem klimatisierten Café ab, währenddem wir im Internet nach attraktiven Flügen suchten. Die Preise waren sehr unterschiedlich, das beste Angebot startete in fünfeinhalb Stunden - über Lima (mit Übernachtung) und Chiclayo nach Panama-Stadt. Wir zögerten nicht lange, buchten den Flug, konnten zum Glück kurz vor Laborschluss noch einen PCR-Test machen, packten unsere Rucksäcke und flogen zurück nach Lima. In einem Stundenhotel in Flughafennähe bekamen wir ein günstiges und überraschend schönes Zimmer. Am nächsten Morgen früh stiegen wir ins Flugzeug nach Chiclayo. Dort angekommen, mussten wir den halben Tag mit Kartenspielen totschlagen und als der Check-In Desk endlich öffnete, erfuhren wir, dass wir für die Einreise nach Panama ein Ausreiseticket vorweisen müssen. Nach dem langen Warten nun plötzlich im Stress, nahmen wir ein Taxi zu einem Restaurant mit Wifi (ja, im Mini-Flughafen von Chiclayo gibt‘s kein Wifi), um via „Onward-Ticket“ einen Ausreiseflug zu buchen. („Onward-Ticket“ ist eine Firma mit Sitz in China, die für rund 20 US $ einen Flug reservieren, die Bestätigung zustellen, um diesen wenig später wieder zu stornieren. Zum Glück arbeiteten dort noch jemand; wegen der Zeitverschiebung wäre in China gemäss Öffnungszeiten schon Feierabend gewesen!) Gerade noch rechtzeitig zum Boarding waren wir zurück am Flughafen. So fühlte sich der Ausgang unserer Odyssee, Peru zu verlassen, trotz weiteren Flügen wie eine Erlösung an. Manchmal müssen moralische Grenzen neu ausgelotet werden.




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