Wie mich das Casa Verde zurück zu meinen Werten brachte
Gesponsert von Andrin, der mir auch schon sein Zuhause zur Verfügung stellte und mit seinem Pragmatismus und Antrieb zu motivieren weiss.
Als ich Mitte November für drei Tage alleine nach Las Penitas ans Meer fuhr, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Die letzten Tage waren anstrengend: Seit wir unseren Camper hatten schlief ich schlecht weil es entweder zu viele Mücken hatte oder mich die hohen Temperaturen wach liegen liessen. Mein Rücken schmerzte, was ich der Matratze zuschrieb, ich war erschöpft und ausgelaugt, dessen Grund ich beim ständigen Vorwärtsdrang von Mirjam festmachte.
Im strömenden Regen suchte ich eine Unterkunft, wo ich mich auf dem Parkplatz niederlassen könnte. Als ich bei Carolina und Jordan im Casa Verde vorfuhr, empfingen sie mich mit offenen Armen. Sie hatten momentan keine Gäste und boten mir ein grosses Zimmer mit schönem Bad an. Das Haus war perfekt. Direkt am Strand, zwei Yoga-Decks mit Hängematten und Liegestühlen im Garten. Ich stürzte mich für einen kurzen Abendsurf in die Brandung, die Wellen machten Spass, waren stark und schnell. Als es dunkel wurde, bummelte ich durch das Dorf, kochte Spaghetti mit Gemüse und genoss den Abend mit Maria Lopez, deren Miauen mir sagte, dass sie lieber mit einem Karnivoren dinieren würde.
Am nächsten Morgen war ich vor allem mit Ausschlafen und Lesen beschäftigt. Ich genoss es, alle Zeit der Welt zu haben und nichts zu müssen; das sehr unterhaltsame und wenig anspruchsvolle Buch "Scharnow" von Bela B. half bestimmt mit, das Jetzt zu geniessen und mir für einmal nicht zu viele Gedanken zu machen. Nach dem Frühstück sah ich, wie Jordan, Carolina und Pepe, ein Junge aus dem Dorf, einen riesigen Berg von Kokosnüssen aufknackten und das Fruchtfleisch in kleine Stücke schnitten. Sie nahmen mein Angebot, ihnen zu helfen, sehr gerne an. Beim Plaudern lernte ich mehr über ihr Leben in Las Penitas. Carolina ist im Norden von Nicaragua aufgewachsen, Jordan ist US-Amerikaner und reiste einige Monate mit dem Fahrrad durch Zentralamerika. Gemeinsam haben sie ihre Genügsamkeit, ihre Dankbarkeit, ihre Verliebtheit in die Natur und den Traum, möglichst ressourcenschonend und selbstversorgend zu leben. Mich inspirierte ihre Arbeitshaltung. Es gab immer irgendwo etwas zu tun und doch war nichts so dringend, dass Zwischenmenschliches verschoben werden musste. „Nicaragua ist ein Paradies, wenn du etwas Kleines aufbauen möchtest. Solange du wenig Geld verdienst, kannst du machen, was du willst“, erklärte mir Jordan währenddem er mit einem Messer das Fruchtfleisch aus der Schale löste. Die Unterkunft der beiden wird in keinem Handelsregister aufgeführt. Falls Beamte vorbeikommen und fragen, was das Casa Verde sei, erklären Jordan und Carolina, dass dies schlicht der Name ihres Hauses sei. Damit geben sich die Beamten zufrieden. „Die Adressen der hiesigen Häuser lauten zum Beispiel: Las Penitas, 400 Meter südlich der Polizeistation. Da dies jedes Haus hier im Umkreis sein könnte, werden derartige Besuche nicht registriert.“
Immer wieder fuhr ein Kind mit dem Fahrrad am Tor des Casa Verde vorbei und rief Carolina und Jordan zu. Sie kennen alle im Dorf. Stolz erzählte mir Pepe von Jordan und Carolinas Projekten in den Schulen. Der Schwerpunkt dieser Projekte liegt darin, Kreativität im Weiterverwenden von vermeintlichem Abfall zu fördern. Es gehe nicht darum, Menschen zu belehren, dass sie ihren Müll nicht auf der Strasse entsorgen sollen oder dass Plastik schlecht sei. Vielmehr soll ein Bewusstsein für Ressourcen entwickelt werden. Mehr und mehr fielen mir in den nächsten Tagen rezyklierte Objekte auf, die das Casa Verde beleben: Trinkgläser bestehen aus alten Glasflaschen. Alte Pneus oder aufgeschnittene Pet-Flaschen werden zu Blumentöpfen. Gartenmauern sind aus Eco-Bricks (alte Pet-Flaschen, die mit Plastikabfall gestopft werden, bis sie hart und schwer sind und mit Mörtel aufgemauert werden können. Durch die Farbwahl der Füllung entstehen so dekorative Muster). Und als mir Carolina erzählte, dass die coolen, geknüpften Armbänder, die die beiden tragen, einmal Plastiksäcke waren, staunte ich nicht schlecht. Das wollte ich auch lernen. In den Bastelstunden mit den Kindern des Dorfes werden genau solche Dinge hergestellt. Manchmal entstehen so motivierende Wettbewerbe, wer aus Plastiksäcken am schnellsten eine Schnur drehen kann oder wer die längste hinkriegt. Für Jordan und Carolina ist es das Schönste, wenn die Kinder auch Monate später immer noch Neues aus Abfall kreieren oder ihre selbst gemachten Plastikarmbänder in allen Farben verkaufen. Ich war froh, hatte ich noch ein Bändeli von Mirjam am Fussgelenk, so konnte ich zeigen, wie wir aus Kokosnussschalen Perlen herstellen - wer weiss, vielleicht ist das ja jetzt der nächste Hype in Las Penitas. ;)
Nachdem wir alle Kokosnüsse geknackt und zerkleinert hatten, nahmen wir die vollen Kübel und fuhren mit den Velos in einen Hinterhof zwei Strassen weiter. Dort stand eine kleine Mühle, welche gemütlich, keuchend und stotternd die Kokosstücke mahlte. Wieder zu Hause drückten wir die Masse durch Stücke aus alten T-Shirts, wodurch Kokosmilch entstand, welches wir am nächsten Tag zu frischem Kokosöl weiterverarbeiteten.
Bei Sonnenuntergang sprang ich spontan in die Wellen und kochte abermals meine Lieblings-Pasta. Am nächsten Morgen testete ich meine neuen Joggingschuhe und tobte mich beim Workout am Strand aus. Plötzlich wurde mir klar, warum ich so unzufrieden war: Ich fühlte mich bevormundet und hatte das Gefühl, dass ich meine Werte nicht mehr lebe. Am Nachmittag machte ich eine Liste darüber, was mich ausmacht, wie ich mich definiere:
Ich brauche regelmässig Sport. Er gibt mir Selbstvertrauen.
Ich bin ein Minimalist. Mein Rucksack ist mir oft zu gross und doch möchte ich nichts davon weggeben.
Ich achte aufs Klima. Ich möchte nicht fliegen, mag keine Autos und unser Umgang mit Abfall macht mich traurig.
Ich bin ehrlich, direkt und halte meine Versprechen.
Ich möchte in Zukunft (wenn, dann) Holzhäuser bauen und alles mögliche aus zweiter Hand kaufen.
Mir wurde klar, dass nur ich allein für mein Leben und mein Handeln verantwortlich bin. Dass ich kein Sport mache, liegt nicht daran, dass mir das jemand verbietet oder dass wir keine Zeit dazu haben; es liegt daran, dass ich es nicht einfordere. Es ist okay, einen grossen Rucksack zu tragen, schliesslich geniessen wir unsere Nächte im Zelt und das Essen aus dem Kochtopf über dem Feuer am meisten. Wenn mir das nicht mehr passt, bin ich alleine derjenige, der das ändern kann. Wir sind schon mehrfach geflogen auf dieser Reise und haben nun ein Auto. Die Corona-Restriktionen grenzen unsere Möglichkeiten ein, wir müssen Kompromisse eingehen. Das Auto ist gebraucht und wir werden es in Mexiko einem neuen Besitzer übergeben. Ganz abgesehen von alldem: Was gibt es cooleres als einen neunmonatigen Roadtrip durch Zentralamerika zu machen? Und mittlerweile, so würde ich sagen, sind wir dank Mirjams Verständnis für meine Prinzipien hartnäckige Weltmeister im Plastiksäcke ausschlagen und wiederverwenden - ob erneut als Plastiksack oder als Armbändeli.
Ich durfte merken, dass mein schlechter Schlaf weder den Mücken, noch der Hitze zugeschrieben werden konnte. Mein Rücken schmerzte nicht, weil die Matratze nicht gut war und Mirjam ist auch nicht verantwortlich für meine Erschöpfung. Mein Schlaf, meine Stimmung liegen alleine an meiner Einstellung und dass ich die Verantwortung dafür übernehme; ob ich mich für einen guten oder einen schlechten Tag, für ein ehrliches Lächeln oder ein grummliges, hässiges Gesicht entscheide, ob ich mein Traumleben geniesse oder das vermeintlich grünere Gras beim Nachbarn beneide.
Es gelingt mir noch nicht jeden Tag, aber die eigentlich selbstverständliche Erkenntnis im Casa Verde war für den weiteren Verlauf unserer Reise entscheidend.
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