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Mirjam Bollinger

Nachtrag: Wie ich mich in Geduld übe

Aktualisiert: 20. Jan. 2021

24.12.2020


Meine Lieben


Dieses Jahr tu‘ ich mich schwer, treffende Weihnachtsworte zu finden. Einerseits weil wir noch immer ein Boot zur Überquerung des Atlantik suchen. Andererseits wohl weil mir vergangenes Wochenende alle meine (emotionalen) Wertsachen gestohlen wurden. Als ich im Sommer meine Wohnung aufgab und meine Möbel weggab, fühlte ich mich gut: Nicht länger sollte mein Herz an Materiellem hängen. Nun aber, da mir meine letzten Wertsachen genommen wurde, fühle ich Unsicherheit.


Die letzten vier Monate waren Lehrzeit. Am Ufer der Loire lernte ich, mein widerspänstiges Ich zu zähmen. Auf den baskischen Küstenstrassen durfte ich mehr und mehr erfahren, was es heisst, Team- anstatt Einzelkämpferin zu sein. In den Hügeln der Algarve bot sich die Chance, meiner Ungeduld entgegenzutreten. Und unter dem klarsten Sternenhimmel – mitten auf dem Atlantik – lernte ich zu vertrauen. Dennoch: Mein Innerstes blieb in steter Unruhe.

Als mich vor einigen Tagen das SMS einer alten Freundin erreichte, fühlte ich mich durchschaut. Ihre Worte sassen; ebenso diejenigen von Rainer Maria Rilke:


„Man muß den Dingen

die eigene, stille,

ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt,

und durch nichts gedrängt

oder beschleunigt werden kann;

alles ist austragen – und

dann gebären….

Reifen wie der Baum, der seine

Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen

des Frühlings steht,

ohne Angst,

daß dahinter kein Sommer

kommen könnte.


Er kommt doch!


Aber er kommt nur zu den

Geduldigen,

die da sind, als ob die

Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos still und weit…


Man muß Geduld haben

gegen das Ungelöste im Herzen,

und versuchen, die Fragen

selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, die in einer

sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

Es handelt sich darum,

alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt,

lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken,

eines fremden Tages

in die Antwort hinein.“


Uns allen wünsche ich fürs neue Jahr Geduld. Mögen unsere Entscheidungen, unser Handeln und unser Umgang mit uns selbst in diesen unsicheren Zeiten geduldig sein.

In diesem Sinne: Frohe Festtage mit euren Liebsten. Ihr werdet mir unsäglichst fehlen; in Gedanken bin ich heute Abend bei euch.




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